Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
trugen und ihre Kommilitoninnen Kleider mit weißen Kragen oder Perlenketten. Auf die Frage: »Gibt es eine Idee, für die Sie sich begeistern könnten?« antworteten zwei Drittel der NWDR-Junghörer mit »Nein«. Eine Mehrheit (67 Prozent) griff »regelmäßig« oder »häufig« zur Zeitung, sie hörte im Radio gern leichte Musik, sie interessierte sich für Kinofilme, die Lebensprobleme darstellten – kitschige Liebesfilme waren nicht nach ihrem Geschmack, noch weniger Kriegsbücher. Fast die Hälfte aller jungen Menschen gehörte irgendeinem Verein an. Jeder Fünfte verbrachte seine Freizeit meist allein und fühlte sich als Einzelgänger, jeder Vierte hatte keinen Menschen, mit dem er sich über persönliche Sorgen aussprechen konnte. Andererseits: 80 Prozent holten sich Rat bei Erwachsenen.
Was Schelsky herausfand
Im Jahr 1957 veröffentlichte der Soziologe Helmut Schelsky sein Buch mit dem bis heute bekannten Titel »Die skeptische Generation«. Im Mittelpunkt standen die in den Dreißigerjahren Geborenen. »Man hört heute in der Erwachsenenwelt zuweilen die Forderung: ›Wir brauchen neue Ideen für die Jugend‹«, schrieb Schelsky, »und die Enttäuschung der Älteren über den Mangel an›Idealismus‹ in der gegenwärtigen jungen Generation ist ziemlich weit verbreitet; diese Einstellung verkennt, daß ›Ideen‹ genügend kursieren, die Jugend aber gar nicht danach sucht, weil ihr die Bereitschaft, sie zu glauben, fehlt, die in den 20er und 30er Jahren gerade aus den Krisen des politischen Geschehens aufstieg.«
Der Soziologe glaubte, dass die Erfahrungen des Krieges und seiner Folgen »die politische Glaubensbereitschaft und ideologische Aktivität, die die vorige Generationsgestalt der Jugend insgesamt kennzeichnete, an der Wurzel vernichtet« habe.
Schelsky hat bei dieser Generation sehr genau hingehört. Jedermann, vor allem auch die Jugend, sagte er, sei »zutiefst von der planerischen Ohnmacht des Menschen gegenüber den großen politischen und sozialen Kräftekonstellationen überzeugt worden«. Darüber hinaus hatte er herausgefunden, dass die Angehörigen der »skeptischen Generation« die Werte ihrer Eltern teilten. Angesichts der Nachkriegsbedingungen blieb den Jungen wie den Erwachsenen nur dieser eine Weg nach vorn: Überleben, eine Existenz aufbauen.
Schließlich wagte der Soziologe sogar eine Prophezeiung: »In allem, was man so gern weltgeschichtliches Geschehen nennt, wird diese Jugend eine stille Generation werden, eine Generation, die sich damit abfindet und es besser weiß als ihre Politiker, daß Deutschland von der Bühne der großen Politik abgetreten ist. Eine Generation, die sich auf das Überleben eingerichtet hat.«
Schelsky hatte, wie gesagt, im Wesentlichen die Dreißigerjahrgänge im Blick. Bei denjenigen aber, die im Krieg geboren worden waren, zeigten sich teilweise andere Entwicklungen. 1955 kam es zu den ersten sogenannten »Halbstarken-Krawallen«, und Schelsky schien sich nicht ganz sicher gewesen zu sein, wie er das Phänomen einschätzen sollte.
Zunächst handelte es sich um Jugendliche aus dem Arbeitermilieu, aber dann wurden ihre Gruppen auch für Bürgerkinder attraktiv. Man traf sich an Straßenecken und Plätzen, wo man sich betrank, Passanten belästigte, randalierte. Gern und häufig wurden Autos geknackt und zu Spritztouren benutzt, die dann imStraßengraben endeten. Es waren die ersten Deutschen, die Jeans trugen, damals noch »Nietenhosen« genannt. Ihre Vorbilder hießen Marlon Brando und James Dean. Ihre Musik waren der Jazz und der Rock ’n’ Roll.
Das »Hamburger Abendblatt« schrieb am 16. Juni 1956: »Man will sich aufputschen und fanatisieren lassen. Und ein Krawall wie beim Louis-Armstrong-Konzert ist dann eine fast selbstverständliche Konsequenz.« Bis 1959 häuften sich in ganz Westdeutschland Straßenschlachten mit der Polizei, in die manchmal viele Tausend Jugendliche verwickelt waren, vor allem im Anschluss an Konzerte.
Da die Halbstarken kein nationales Phänomen darstellten, sondern auch andere Länder damit Probleme hatten, fand keine nennenswerte spezifisch deutsche Ursachenforschung statt. Sie galten als verwahrloste Jugendliche. Wie aber war das möglich, so wurde immer wieder in den Medien gefragt, denn es handelte sich zunehmend um Halbwüchsige »aus ganz normalen Familien«. Nur sehr nachdenkliche Feuilletonisten verwiesen darauf, dass diese Altersgruppe sich in ihrer Kindheit für das Überleben der ganzen Familie
Weitere Kostenlose Bücher