Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
gestörte Individuum stellen und mit denen es nicht fertig werden kann.«
Hau erinnert in diesem Zusammenhang an die Halbstarken-Zeit, die bei Erscheinen seines Buchs schon zehn Jahre zurücklag, und verweist auf die damaligen Erwachsenen, die den »Auswüchsen« der Nachkriegsjugend meistens ohne Einfühlungsvermögen gegenübergestanden hätten.
Der Klinikarzt veröffentlichte seine Forschungsergebnisse elf Jahre nach dem Erscheinen von Schelskys »Skeptischer Generation«. Die Zeiten hatten sich geändert. Hau konnte während seiner Arbeit am Buchmanuskript die Vorbeben der sich ausbreitenden Studentenunruhen nicht mehr übersehen, weshalb er die Verantwortlichen eindringlich mahnte, sich endlich in verständnisvoller Weise um diese Jugend zu kümmern.
Eine Generation, die nicht interessierte
Wie ging es weiter mit der Wahrnehmung der Kriegskinder in der deutschen Gesellschaft? Gar nicht. In der rebellierenden Studentenjugend Kinder zu sehen, die einer kollektiven Katastrophe entkommen waren, und daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen lag allen Konfliktparteien fern: in erster Linie den 68ern selbst, aber auch ihren Gegnern und Verbündeten in Politik und Medien.
In den Siebzigerjahren wurde für kurze Zeit eine Gruppe Kriegskinder sichtbar, als sich die Presse für die Erfahrungen der sogenannten »Flakhelfergeneration« interessierte. Dann, nach zehn weiteren Jahren, erwachte die Nazikindheit – nicht die Kriegskindheit – als viel beachtetes Thema in der psychotherapeutischen Literatur, parallel dazu wurde die kriegsbedingte Vaterlosigkeit entdeckt. Nicht wenige Schriftsteller steuerten Autobiografisches aus der Kinderperspektive bei, vor allem aufschlussreiche Szenen des Nazialltags. Die Schrecken des Krieges erwähnten sie in ihren Büchern eher beiläufig. Wer das Glück hatte, in friedlichen Zeiten aufgewachsen zu sein, erfuhr durch die Lektüre, dass die erwachsen gewordenen Kinder auch im Rückblick keinen Anlass sahen, über ihr Schicksal zu klagen.
Der Publizist und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, der mir aus Anlass einer Hörfunksendung 1997 einen ersten Weg zum Verständnis der Kriegskindergeneration bahnte, sprach in ihrem Zusammenhang von einer »verschwiegenen, unentdeckten Welt, von einer wenig untersuchten und wenig aufgearbeiteten Seite der Geschichte unserer Bevölkerung«.
Er verwies darauf, dass die Wissenschaftler, die Ende der Siebzigerjahre mit der Aufarbeitung der Hitler-Zeit begannen, sich aufgrund von Schuldgefühlen nur berechtigt sahen, über die Opfer der Nazis zu forschen: über die Überlebenden des Holocaust und andere verfolgte Gruppen – oder über jene, deren Väter bei den Nazis eine exponierte Rolle gespielt hatten. Jedenfalls wurde ausgeblendet, dass traumatisierte deutsche Kinder genauso zu den Opfern der Nazis gehörten.
Wir haben es also mit einer vergessenen Generation zu tun. Ihr Schicksal interessierte nicht. Es wurde nicht erforscht.
VIERTES KAPITEL
Zwei Frauen ziehen Bilanz
Die Sehnsucht, es möge nie wieder Krieg geben
Zwei Frauen, zwei Schicksale und viele Gemeinsamkeiten. Würden sie sich kennen, wären sie vielleicht Freundinnen, denn sie sind sich ähnlich in der Art, wie sie reflektieren, wie sie mit dem Älterwerden umgehen, ihrer Liebe und Fürsorge für die Enkel, dem Bildungshintergrund, dem noch immer nicht ermüdeten sozialen Engagement, ihrem wachen Interesse an Politik und ihrer Sehnsucht, es möge nie wieder Krieg geben.
Zwei Frauen, zwei Varianten einer Kriegskindheit und zwei sehr unterschiedliche Lebensverläufe. Marianne Kraft*, geboren 1930, und Ruth Münchow*, vier Jahre jünger, haben sich vor meinem Besuch viel Zeit genommen und eine Art Lebensbilanz erstellt. Beide Frauen stammen aus Großstädten, beide wuchsen in bürgerlichen Familien heran. Beide können auf viele glückliche Kinderjahre und auf ein interessantes Berufsleben zurückblicken. Nachdem ich sie interviewt hatte, war mir klar, dass ich ihre Geschichten auf irgendeine Weise zusammenfügen musste. So entstand die Idee eines gemeinsamen Kapitels.
Marianne Kraft sieht keinen Grund zu klagen, weil sie es »im Großen und Ganzen gut gehabt« habe. Bei Ruth Münchow, dem Flüchtlingskind, fällt die Bewertung anders aus: »Das Leben war einfach immer anstrengend für mich.« Dabei klingt ihre Stimme so sachlich, als spräche sie von einer Einkaufsliste. Die Schrecken der Flucht werden in wenigen Sätzen angedeutet. Ganz anders die Erfahrungen in den Jahrzehnten
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