Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
und der Schädelgröße. Alles zusammen deutete auf eine frühkindliche Traumatisierung durch Hungern hin.
Vom Patienten kam eine Bestätigung, aber auch ein klares Nein. Es stimme, sagte er, dass er in seinem Leben immer wieder eine gewisse Leere verspüre, so, als sei er nie wirklich satt. Aber gehungert habe er in seiner Kindheit gewiss nicht, im Gegenteil, sogar Schokolade habe er bekommen. Der Psychiater schlug ihm vor, die Sache dennoch weiterzuverfolgen und gezielt bei seiner Mutter nachzufragen.
Das Ergebnis war umwerfend. »Als ich den Patienten wiedersah, konnte er es kaum abwarten, mir von seinen Recherchen zu berichten«, schreibt Heinl, denn seine Mutter hatte ihm die Mangelernährung bestätigt: Bis zum Eintritt in die Volksschule habe er Nahrung vornehmlich in flüssiger Form erhalten. Schokoladestückchen seien die Ausnahme gewesen. Öfters sei er, auf dem Töpfchen sitzend, ohnmächtig geworden.
Außerdem hatte der Patient bei seinen Nachforschungen im Keller ein lange verschollenes Fotoalbum gefunden. Die Bilder zeigten, so Heinl, einen hageren kleinen Jungen mit einem dünnen Körper, einem großen Kopf und traurigen, eingesunkenen Augen.
»Es gab eigentlich nicht mehr viel zu sagen«, stellt der Therapeut am Ende seiner Fallbeschreibung fest. »An einem ganz gewöhnlichen Morgen, in einem der reichsten Länder der Erde, wohin das Wort ›Hunger‹ nur noch über die Nachrichten gelangt, saß ein Mann, dem zum ersten Mal in seinem Leben die Konsequenzen des frühen Hungers für sein ganzes Leben bewußt geworden waren. Das Symptom eines letztlich harmlosen Schwindels, der in der nachfolgenden Behandlung auch nicht mehr auftauchte, hatte die Wahrheit über eine jahrzehntelang anhaltende Traumatisierung ans Licht gebracht.«
Die Rolle der Psychoanalyse
Da ihn Heinls therapeutisches Arbeiten überzeugte, widmete Tilmann Moser ihm in seinem Buch »Dämonische Figuren – DieWiederkehr des Dritten Reiches es in der Psychotherapie« fast ein ganzes Kapitel. Allerdings verbirgt Moser nicht seine Irritation darüber, dass Heinl sich in seinem Buch »Maikäfer flieg« – ohne dies auch nur mit einem Satz zu begründen – auf das reine Kriegsgeschehen beschränkt, mehr noch, die Nazizeit und damit den Holocaust und die Folgen für die Opfer völlig ausklammert.
Für Moser selbst wäre das undenkbar. Er käme nicht auf die Idee, Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit zu trennen, nicht einmal theoretisch. In seiner psychotherapeutischen Praxis sieht er das eine mit dem anderen verknüpft, sieht er Einflussfaktoren wie Not, Angst, Verlassensein, Verstrickung, Schuld, die sich gegenseitig steigern – zum Beispiel das Hungern und der SS-Vater, der sich nach dem Krieg versteckt hielt und auf keinen Fall durch ein falsches Wort verraten werden durfte . . .
Mosers Beispiele befassen sich überwiegend mit Patienten, die sich auf diffuse Weise mit Familiengeheimnissen aus der NS-Zeit herumschlugen und häufig die von den Eltern abgewehrte Schuld übernommen hatten. »Die private seelische Verarbeitungstätigkeit«, stellt der Psychoanalytiker fest, »funktioniert arbeitsteilig: In vielen verstrickten Familien ist es meist ein Mitglied, das leidet, entgleist, nachfragt oder durch eine auffällige Biographie das Unaussprechliche zunächst unbewußt thematisiert.« In Zehntausenden von Psychotherapien seit den Siebzigerjahren sei die politische Geschichte in verdeckter Form angeboten worden, als Quelle seelischen Leidens. Aber Psychotherapie und Seelsorge seien noch nicht so weit gewesen, die Behandlungsformen, ja auch nur Formen der Aufdeckung für diese Zusammenhänge anzubieten.
Im Übrigen gibt Moser zu bedenken, dass vielleicht weder bei Siegern noch Besiegten, weder bei Opfern noch Tätern, noch Mitläufern, noch außenstehenden Beobachtern angesichts der NS-Schrecken eine gelassene Forschung möglich gewesen sei. »Trotzdem bleibt es erstaunlich, daß die Lehrer und Missionare der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die zur Hilfe beim Wiederanschluß an die verlorenen Standards nach Westdeutschlandkamen, das NS- und Kriegsthema ebenfalls ausblendeten, bis in den siebziger und frühen achtziger Jahren die internationale Holocaustopferforschung begann.«
Die deutschen Freudianer holten sich also ihr Wissen aus Amerika, und sie übernahmen kritiklos einen Theoriestand, der, so Tilmann Moser, »das klassische Denken und den Ödipus zum zentralen Thema hatte«. Amerika kannte keine Nazizeit,
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