Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
erinnern, dies ihm auch nicht nachhaltig geschadet haben könne. Auffällig war noch, dass Menschen, die eben erst durch mich auf ein Thema aufmerksam gemacht worden waren, mit dem sie sich noch nie zuvor beschäftigt hatten, umgehend vor der Gefahr warnten, »dem Krieg nun alles in die Schuhe zu schieben«.
Umso überraschter war ich über ein Gedicht, das mir eine Kinderkrankenschwester schickte. Vor vielen Jahren schon, schrieb Barbara Bullerdiek dazu, sei es entstanden.
Unter Beschuß geraten
Dem Tod keinen Widerstand entgegensetzen
ins Leben entgleisen
neugeborenes Nervenbündel
fällt hart ins Kriegsgeschrei ein
tauscht unerfahren die Fronten
vom Bauchraum zum Luftschutzraum.
Als sie das Gedicht damals einigen Altersgenossen zu lesen gab, hatte sie nur Achselzucken ausgelöst. Niemand interessierte sich für den Gedanken, dass im Jahr 1944, als sie geboren wurde, die Ankunft eines Kindes eher Verzweiflung als Freude ausgelöst haben musste, zumindest in einer Großstadt. In meinen Interviews wurde oft davon gesprochen, allerdings eher beiläufig. »Da war ein Flugzeug abgestürzt mit seinen Bomben in das Gelände«, erzählte eine Frau von Mitte siebzig. »Und in der Frauenklinik war keine Scheibe mehr ganz. Es war sonst nicht viel passiert, nur dass die Mütter keine Milch mehr hatten.«
Einmal auf die Spur gesetzt, begann Kurt Schelling mit eigenen Ermittlungen. Rückblickend glaubt er, überhaupt keine andere Wahl gehabt zu haben. »Ich fiel förmlich auseinander. Ein Körper hält das irgendwann nicht mehr aus. Die Not in mir, die wollte ausgesprochen werden, ausgeweint, ausgeschrien. Diese ganze Angst, die in mir war, die musste mal raus!«
Zu seiner großen Überraschung kam von seiner Mutter, die stets das Sonnige seines frühen Lebens hochgehalten hatte, nun, da sie eine alte Frau geworden war, unumwunden die Bestätigung. Sie wehrte nicht ab, sie scheute nicht den Schmerz der Erinnerung: Ja, sagte sie, wir sind den ganzen Krieg über in Düsseldorf gewesen. Ja, ich hatte im Keller immer Todesangst. Ja, du hast sämtliche Bombenangriffe miterlebt – und ich hab dich nicht stillen können, wegen der ständigen Angst.
Ihr Kurt sei der Sonnenschein gewesen, sagte sie, weil es ringsum so viel Finsternis gab . . .
»Und dann ist mir klar geworden«, erzählt Kurt, »es ist doch kein Wunder, dass mein Herz keine Ruhe geben wollte. Ich bin auch ins Herz getroffen worden, das ist so. Ich bin wer weiß wie oft schon gestorben. Und das geht nicht spurlos an einem Menschen vorüber, und schon gar nicht an einem Herzen.«
Von diesem Zeitpunkt an wollte er alles erfahren. Jedes Detail wurde plötzlich für ihn wichtig. Jedem Literaturhinweis ging er nach, bis er schließlich in Dieter Fortes Roman »Der Junge mit den blutigen Schuhen« das Grauen des Bombenkriegs aus der Perspektive eines Kindes nachlesen konnte. Er musste sich dem Gift seiner frühen Kindheit noch einmal aussetzen, er konnte gar nicht anders. Von seinen gleichaltrigen Freunden hörte Kurt, er solle endlich mit dem Wahnsinn aufhören. Was bringt das denn noch? Vorbei ist vorbei . . . Vermutlich bangten sie manchmal regelrecht um seinen Verstand.
Bombenstimmung!
»In dieser Phase habe ich auch oft meine Eltern verflucht«, erinnert er sich. »Warum mussten sie ein Kind kriegen in dieser Wahnsinnszeit!« Seine Mutter reagierte dennoch mit Verständnis, und dafür wird der Sohn ihr immer dankbar sein, denn er weiß, dass andere alte Eltern solche Nachfragen mit Schweigen beantworteten. Zu seinem fünfzigsten Geburtstag schenkte sie ihm die Kopie einer amtlichen Liste, in der detailliert alle Bomben aufgeführt sind, die von 1943 bis 1945 seine Geburtsstadt getroffen hatten. Schelling verarbeitete die Liste des Horrors in einer auffälligen Collage und gab dem Bild, das seitdem in seinem Flur hängt, den Titel »Bombenstimmung«. Nein, bei ihm ist das Thema Krieg kein Tabu mehr. Darüber zu sprechen hilft ihm, tut ihm gut. Denn: »Dieses Gefühl, die Welt geht unter, das steckte ja ganz tief in mir . . .«
Er hat eine Psychotherapie gemacht. Seine Herzbeschwerden und seine Ängste melden sich nur noch gelegentlich, und dann in deutlich abgeschwächter Form. Er fühlt sich im Großen undGanzen gesund, er kann lachen, kann weinen, kann genießen. Und er führt, im Unterschied zu früher, ein viel bewussteres Leben. Als ich ihn zum ersten Mal traf, dachte ich keineswegs an Krankheit, sondern: So jemand macht noch mit achtzig Radtouren und
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