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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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absolute Treue, Fleiß, Ehrgeiz, aber insbesondere Treue.
    Das klingt alles eher nach Pflichterfüllung als nach Freude am gemeinsamen Zusammenleben. Das Tragische scheint mir zu sein, dass derartige Verbindungen letztlich doch auseinanderbrechen können. Und was passiert? Dann stehen diese Frauen am Ende genauso allein da wie die anderen, die mir die Kölner Psychotherapeutin Irene Wielpütz im Zusammenhang mit der Kriegskindergeneration schilderte: »Es gibt auch die Menschen, die ihren Weg gegangen sind ohne längere Beziehung und dann sehr einsam sind und dann vielleicht im Alter nachdenken, warum das so war, wobei dann eine große Sehnsucht entsteht – fast so, als würden sie an die Prinzen und ans Märchen glauben. So stellen sie sich manchmal eine Beziehung vor. Und wenn jemand Mitte bis Ende sechzig ist und sich das so vorstellt, das ist schon diskrepant.«
    Also auch hier wieder ein Hinweis auf die übersprungene Pubertät. Aus Psychotherapien mit älteren Menschen weiß man: Trotz ermutigender Sätze wie »Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit« gilt, dass versäumte Lebensphasen nicht wirklich nachgeholt werden können, sondern nur einzelne Elemente, zum Beispiel wenn Großeltern mit ihren Enkeln endlich das Spielen lernen. Wie also könnte es aussehen, wenn Ruheständler es wagten, sich ein bisschen pubertäres Verhalten zu leisten, ohne sich deshalb gleich lächerlich zu machen oder zu gefährden?
    Dies könnte neben vielen anderen ein lohnendes Gesprächsthema zum Stichwort »Kriegskindheit« sein, aber Ruth Münchow ist damit in ihrem gleichaltrigen Freundeskreis eher auf Zurückhaltung gestoßen. Die Hamburgerin bedauert das sehr, zumal sie bei der Aufarbeitung ihrer Kindheit durchaus Erfolgserlebnisse hat. »Mein Durchbruch war, als ich in einem Zeitungsartikel sagen konnte: Ich fühle mich durch meine Kriegserfahrungen als Behinderte. Das war ein Coming-out!«
    Wussten ihre Kinder von dem Zeitungsbeitrag, haben sie daraufreagiert? Nicht so, wie sie selbst es sich gewünscht hätte, sagt Ruth und zeigt ein Lächeln, das Verständnis ausdrückt. Ihr Sohn habe dazu kein Wort gesagt, zeige sich aber seither gegenüber dem Thema aufgeschlossen und habe ihr sogar schon weitere Zeitungsberichte mitgebracht.
    Die Kinder allerdings, also Ruths Enkel, durften den Zeitungsartikel nicht lesen. Als die Großmutter davon erfuhr, dachte sie: Meine Güte, die sind heute elf und 16 Jahre alt, und ihre Eltern glauben, das Lesen würde sie zu sehr belasten. – Ich war damals elf und musste das alles erleben . . .« Aber gegenüber ihrer Tochter würde sie solche Gedanken nicht äußern.
Ein Traum, der heilte
    Es gab noch einen zweiten Wendepunkt – ein Traum, der heilte. Lange Zeit hatte sie unter einem unerträglichen Kribbeln in den Beinen gelitten, das sich bis in den Magen hinauf verstärkte. Auf Anraten ihres Arztes nahm sie Magnesium ein, aber das Symptom ging nicht weg. Eines Tages aber fand sie in einem Buch des Traumaforschers Peter Levine einen Hinweis, der sie ermutigte, ihren Weg der Selbsterforschung weiterzugehen. Levine hatte über die körperlichen Reaktionen von Tieren geschrieben: was passiert, wenn sie bei Bedrohung erstarren, und was geschieht, wenn diese Erstarrung sich wieder löst. Ruth deutete daraufhin auch ihr Symptom so, dass sich in ihrem Körper eine Erstarrung verabschiede, und das allein machte ihre Beschwerden erträglicher.
    Dann hatte sie den Traum, dass eine Sinti-Familie in ihre Wohnung eindringt und sich einfach alles nimmt, was ihr in die Finger fällt. Ruth protestiert, aber der Sinti-Vater sagt als Rechtfertigung: »Ja, wissen Sie denn nicht, was Hitler mit uns gemacht hat?!« Da wird sie im Traum ungeheuer wütend und schreit: »Ich hab mein Leben lang dafür gebüßt! Was kann ich denn dafür? Ich war doch noch Kind . . .«
    Seitdem hat das Kribbeln aufgehört, seitdem fühlt sie sichetwas stabiler, und sie hofft, dass sich noch weitere Belastungen verabschieden werden.
    Am Schluss stelle ich ihr die Frage, auf die ich nur selten eine Antwort bekomme: Wie stünde sie heute da, wenn der Krieg nicht gewesen wäre?
    Ruth lacht. »Was für eine Frage! Na gut – ich hätte sicher ein Pferd und würde am Meer entlangreiten.«

FÜNFTES KAPITEL
    Das fröhliche Kind
Eine kleine Preußin erträgt alles
    Viele Angehörige der Kriegskindergeneration kennen von ihren Eltern den Satz: »Du warst immer so ein fröhliches Kind!« Was ist davon zu halten? Liest man in den

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