Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
vorzulesen, mitten im Vortrag lachen musste und hinzufügte: »Georg Thurmair wurde damals als Dichter der katholischen Jugend angesehen; ich mag ihn heute nicht mehr besonders, aber der lebt auch nicht mehr.«
Der Hunger und das Vergessen
Wie in den vielen Kindheitserinnerungen nachzulesen ist, bedeuteten die ersten Nachkriegsjahre vor allem Not, aber gleichzeitig Abenteuer, Freiheit, das schöne Gefühl, von den Erwachsenen nicht länger kontrolliert zu sein. Da war aber auch Rücksichtnahmegegenüber den Eltern. Ihnen, die schwach, krank und arm geworden waren, wollten die Kinder eine Stütze sein, so gut es eben ging. Ihre elende Lage wollten sie verbessern, oder doch wenigstens ihre Stimmung aufhellen.
Ein immer wiederkehrender Traum erinnerte Ursula Stahl noch jahrelang an ihren großen Kummer als Siebenjährige, weil sie ihren Eltern nicht helfen konnte: »Im alten ›Henkelshaus‹ sitze ich mit meinen alten und hilfsbedürftigen Eltern. Es sind die grauen, verräucherten Kämmerchen, in denen wir so lange haben hausen müssen. Es gibt keinen Tisch und keinen Stuhl, nur die große Holzkiste, die uns seit Lodz begleitet hat. Meine Eltern haben Hunger und Durst, und ich kann ihnen nichts zu essen geben.«
Da will man seinen Eltern doch wenigstens Fröhlichkeit geben . . .
Es war der Psychiater und Psychotherapeut Peter Heinl, der mich in seinem Buch »Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg« auf das Phänomen der »fröhlichen Kriegskinder« aufmerksam machte. Aber zunächst einmal ließ mich der Titel stutzen. Wo kam dieses Lied eigentlich her? Kein Zweifel, es war alt, sehr alt. Vermutlich stammt es noch aus dem Dreißigjährigen Krieg. In Deutschland ist »Maikäfer flieg« so bekannt wie kein anderes Kinderlied, obwohl es kaum mehr irgendwo gesungen wird: ein Wiegenlied, das die Gefühle von Kriegsangst und Verlassenheit ausdrückt.
Peter Heinl, der sich seit den Achtzigerjahren therapeutisch und wissenschaftlich mit den Traumata der Holocaustopfer – und dabei besonders mit dem Leid der Kinder – beschäftigt, machte in seinem 1994 erschienenen Buch »Maikäfer flieg« auf die Not jener Patienten aufmerksam, die nach Jahrzehnten noch an den Folgen von seelischen Kriegsverletzungen aus der Kindheit litten, während ihnen die Ursache ihrer Symptome verborgen blieb. Ihm war aufgefallen, dass selbst dann, wenn Fotos aus der Kleinkindzeit eindeutig andere Aussagen machten, viele Eltern im Nachhinein an ihrer Überzeugung festhielten, es habeihren Kindern trotz der schlechten Zeiten »an nichts gefehlt«. Auf diese Weise verfestigte sich auch bei ihren Kindern ein ungenaues Bild ihrer Identität. Wenn sie psychische Probleme bekamen, fielen ihnen alle möglichen Ursachen ein – aber nicht ihre Kriegskindheit.
»Es ist nicht meine Absicht, Eltern zu verurteilen, die sich teilweise in verheerenden Umständen gefangen sahen«, schickt Heinl voraus. »Aber in solchen Fällen gehen diese Kinder dann als Erwachsene mit einer Fremdeinschätzung durchs Leben, die das Herantasten an die Realität der Kindheit erschwert. Denn welchen Gewinn sollte ein Bewußtwerden der damaligen Kindheit erbringen, wenn diese, ohnehin schon Jahrzehnte zurückliegend, angeblich mit Frohsinn gesegnet war, selbst wenn das Land in Schutt und Asche lag.«
Heinl, dessen Workshops für ehemalige Kriegskinder so etwas wie ein Geheimtipp sind, erfasst die Spuren von Angst, Zerstörung und Elend rein intuitiv. In einer seiner anrührenden Fallgeschichten beschreibt er die Behandlung eines 1945 geborenen Patienten, der an rätselhaften Schwindelanfällen litt. Es handelte sich um einen hochgewachsenen Mann, dessen Gesicht Freundlichkeit ausstrahlte, während in seinen Augen, wie Heinl sich ausdrückt, ein ferner Schimmer von Traurigkeit lag. »Alles, was mir sonst noch auffiel, war, daß mir sein Kopf im Verhältnis zum Körper eine Spur zu groß zu sein schien.« Heinl erzählt weiter, wie er sich darauf konzentrierte, anamnestische Daten zu erheben, bis sich in ihm »immer stärker das Gefühl regte, den Patienten – in Anführungsstrichen – füttern zu müssen«.
Der Therapeut hatte keine Scheu, dies dem Mann mitzuteilen und ihn zu fragen, ob sein etwas zu großer Schädel mit Mangelernährung in seiner Kindheit zu tun haben könne.
An diesem Punkt seiner Arbeit wurde Heinl bewusst, dass sich in seinen Gedanken bereits eine Indizienkette aufgereiht hatte, und zwar aus den Elementen Geburtsdatum, seiner Wahrnehmung des Fütterns
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