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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Unermüdlicher Einsatz zahlte sich in seiner Generation noch aus. Man dachte nicht an mögliche gesundheitliche Folgen. Kurt war erfolgreich im Beruf und ein engagierter, gut gelaunter Familienvater, immer unter Volldampf. Früh hatte er geheiratet, sich drei Kinder und ein Häuschen im Grünen angeschafft; also alles normal und finanziell gut geregelt, alles überschaubar bis zur Rente.
    Unser Gespräch allerdings findet nicht in einem Designerambiente statt, sondern in einer winzigen, völlig uneitel möblierten Küche. Als ich seine Wohnung betrat, dachte ich, hier lebten Studenten.
    Kurt Schelling nimmt mir meine falsche Einschätzung nicht übel. Er sieht es als Gewinn, dass er in seinem Alter noch das Provisorium mag, das Unerwartete, das Wagnis. Während seines letzten Urlaubs unternahm er eine lange Radtour in Italien, ein sportlicher, lebhafter Mann – und als Großvater der gute Kumpel seiner Enkel –, der seine Gefühle nicht mehr vor anderen versteckt, sondern sie in ungewöhnlicher Offenheit ausbreitet. Er besucht regelmäßig eine Männergruppe – das merkt man. Vorzehn Jahren hat er sein Leben völlig umgekrempelt, eine Phase, die, wie seine Wohnung es am besten ausdrückt, nicht abgeschlossen ist.
    Noch ein paar Jahre früher, mit Mitte vierzig, hatte sich sein bis dahin so wohltemperiertes Lebensgefühl drastisch geändert. Er konnte sich nicht erklären, warum ihn sein Optimismus und sein Humor verlassen hatten. Er war ratlos, obwohl es durchaus Hinweise gab. »Ich hatte diese verrückten Träume, dass der Himmel dunkel war, und ich sah nur Flugzeuge«, berichtet Kurt. »Ob ich die jemals überhaupt gesehen habe, weiß ich nicht, aber gut, diese Träume hatte ich halt. So verrückt war das . . .«
    Auch in seiner Wahrnehmung begann sich alles zu verschieben. Kurt kannte sich selbst nicht wieder. Er, der nie weinte, hatte nun ständig mit Tränen zu kämpfen. Besonders schlimm waren die Abschiede nach einem Besuch bei seinen Eltern. Danach schluchzte er jedesmal wie ein kleines Kind, heimlich, wenn er wieder im Auto saß. Dabei war ihm das Lachen sozusagen in die Wiege gelegt worden. Er hatte das Glück, von fröhlichen, liebevollen Eltern umsorgt worden zu sein, von denen er immer wieder hörte: »Ach Kurtchen, du warst unser Sonnenschein!« Nur ihrem bezaubernden kleinen Sohn, so die Eltern, sei es zu verdanken gewesen, dass die Familie nach Kriegsende genügend zu essen bekommen habe. Offenbar hatte Kurtchens strahlende Miene auch fremde Menschen veranlasst, ihm immer wieder etwas zuzustecken.
Sonnenschein und Spaßvogel
    Aus dem kleinen Sonnenschein wurde im Erwachsenenalter ein Spaßvogel. »Ich war jemand«, erinnert sich Schelling, »der immer Scherze machte, derjenige, der überall beliebt war – weil er immer gut drauf war.«
    Wirklich immer? Nicht ganz, gibt Kurt zu. Da waren auch Fragezeichen. Da war gelegentlich das Gefühl: Das bist du doch nicht,jedenfalls nicht komplett; dieser Normalo, der es allen recht macht, der nur auf der Welt zu sein scheint, damit es den anderen gut geht. Da gibt es noch jemanden, der geht immer neben dir, den kennst du nur noch nicht.
    Merkwürdige Gedanken, die sich häuften. »Irgendwann war mir auch klar, ich muss diesen anderen Kurt hinter dem ewigen Spaßvogel entdecken«, erzählt er. »Mir standen manchmal meine eigenen Witze bis zum Halse. Ich konnte mich selbst nicht mehr ertragen.«
    Erst kam das Weinen, dann die Panik. Es waren heftige, heimtückische Überfälle von Angst, die seine Herzbeschwerden ins Unerträgliche steigerten. Ein Bekannter gab ihm schließlich den entscheidenden Hinweis, der zu seiner Kriegskindheit führte. Er sagte: Guck dir doch mal deine Geburtsdaten an.
    Geboren 1943 in Düsseldorf. Im Krieg auf die Welt gekommen und dann ab in den Luftschutzkeller . . . Natürlich besaß Kurt keinerlei Erinnerungen daran; auch unter seinen Ärzten war niemand auf die Idee gekommen, angesichts seiner Lebensdaten zwei und zwei zusammenzuzählen.
    Es ist schon verblüffend, in welchem Ausmaß eindeutig gesichertes Wissen der Entwicklungspsychologie ignoriert wurde und immer noch ignoriert wird. Ich habe festgestellt, dass selbst Kindergärtnerinnen und Lehrer, die über die Folgen frühkindlicher Störungen gut Bescheid wissen, beim Thema »Kriegskinder« schnell bereit sind, ihr Fachwissen einfach zu vergessen. Stattdessen wird auf die alte Vorstellung zurückgegriffen, wonach, wenn jemand zu klein war, um sich an das Schreckliche zu

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