Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
veröffentlichten Kindheitserinnerungen, die inzwischen einen beachtlichen Umfang erreicht haben, wird deutlich, dass es eigentlich keinen Grund gab, permanent fröhlich zu sein.
»Ich übte tagtäglich, Schmerzen zu ertragen«, schrieb Ursula Stahl, Jahrgang 1938, als sie an ihre Frostbeulen zurückdachte. »Irgend jemand hatte meinen Eltern zu einer Petroleumbehandlung geraten, und so wickelte meine Mutter jeden Morgen meine auf das Doppelte geschwollenen, offenen Zehen in petroleumgetränkte Lappen. Und dann begannen meine Qualen! Zentimeter für Zentimeter quetschte ich meine erfrorenen Zehen in die festen Winterstiefel. War ich endlich drin und hatte sie zugeschnürt, kam das Aufstehen und Gehen. Es war die Hölle! Mit zusammengebissenen Zähnen und Tränen in den Augen machte ich mich auf den qualvollen Weg zur Schule.«
Hierbei, schreibt sie weiter, habe sie ihre »preußische Disziplin« eingeübt, die sie bis heute nicht abgelegt habe. Dass Ursula Stahl ihren Kriegs- und Nachkriegserinnerungen ausgerechnet den Titel »Geh aus, mein Herz, und suche Freud!« gab, hat mich sonderbar berührt. Gern will ich glauben, dass ihr die Liebe zur Natur die Kraft zum Überleben schenkte. Die Natur als große Trösterin. Kaum jemand hat das überzeugender auszudrücken vermocht als Paul Gerhardt, der im Dreißigjährigen Krieg vier seiner fünf Kinder verlor und erst danach – ein Meister des Gottvertrauens! – seine wunderbaren Kirchenlieder dichtete. Aber hätte er ausgerechnet seine Kriegserinnerungen mit der Aufforderung überschrieben »Geh aus, mein Herz, und suche Freud!«?
Für mich drückt der Buchtitel, den Ursula Stahl wählte, ehereine Durchhaltementalität als Gottvertrauen aus. Das soll kein Vorwurf sein, sondern erklären helfen, warum Menschen, die den Krieg nicht miterlebt haben, oft so irritiert auf die Erinnerungen der Älteren reagieren. Es geht um diesen immer wieder auftauchenden scheinbar unbeschwerten Tonfall, der absolut nicht zu dem passt, was gerade vorher an Schrecken beschrieben wurde – zumal wenn die schlimmsten Erlebnisse mit einem eigentümlich lachenden Gesicht präsentiert werden, das aber den Erzählenden überhaupt nicht bewusst ist.
Für Außenstehende, die keine vergleichbaren Erfahrungen haben, sind das verwirrende Signale. Was sollen sie denn eigentlich ernst nehmen? Eichendorffs »Taugenichts« mag einem da in den Sinn kommen, jenes Stehaufmännchen der Romantik, dem nichts etwas anhaben konnte. Während seiner Wanderschaft geriet er ständig in Gefahr, großes Unglück drohte, er fiel sogar unter die Räuber . . . aber dann war plötzlich wieder alles gut, da war das nächste Dorf, der Platz am Brunnen, wo der junge Wandersmann seine Fidel auspackte, und schon war er von wohlwollenden Menschen umringt, die sangen und tanzten.
Die Dichter der Romantik liebten es, in die Banalität und die Härte des Lebens märchenhafte Elemente einzuweben. Und es gehört zu den großartigen Eigenschaften der Poesie und der Musik, dass sie über schwere Zeiten hinweghelfen können. Natürlich wurde auch im Luftschutzkeller und während der Flucht gesungen: Weihnachtslieder, Heimatlieder, Kirchenlieder, Schlager wie »Davon geht die Welt nicht unter!«, und auch dieses Lied:
Hajo, noch schäumt das Leben
im Kelche junger Wein
mit Feuer wilder Reben
es muß getrunken sein.
Noch glühen unsere Sterne
am Himmel hoch im Glanz,
wir stürmen ihre Ferne
und zwingen sie zum Tanz.
Wir tanzen unser Leben
und jauchzen hell im Schwung,
uns ist es aufgegeben
die Welt wird wieder jung.
Die Kölnerin Liesel Schäfer schrieb dazu in ihren Lebenserinnerungen: »Diesen Text von Georg Thurmair sangen wir im verdunkelten, unter Bomben zerfallenden Köln. Wir sangen ihn auch später im nicht verdunkelten Köln, angesichts des Ausmaßes der geschehenen Zerstörung und der Verbrechen. Wir sangen ihn im Bewußtsein unserer Jugend, unseres Überlebens, als Ausdruck unserer Hoffnungen und Träume.«
Wir tanzen unser Leben und jauchzen hell im Schwung . . . Lieder wie diese stärkten die Gemeinschaft. Und sie versuchten, die allgemeine Untergangsstimmung durch eine wie auch immer aufgeschäumte Hoffnung zu besiegen. Für die Nachgeborenen ist kaum zu unterscheiden, ob damit das blinde Durchhalten oder die Zuversicht gestärkt wurden. Umso wichtiger, dass Zeitzeugen ihre damaligen Stimmungen nicht ungefiltert weitergeben, sondern reflektiert – so wie Liesel Schäfer, die, als ich sie bat, den Text
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