Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
kein millionenfaches Morden und keinen Krieg, also gab es auch keine Schuld und keine kollektive Katastrophe zu verarbeiten. In den USA herrschten ähnliche bürgerlich-friedliche Verhältnisse wie in Wien, als Sigmund Freud seine Theorien über die Familienbeziehungen aufstellte. Das heißt: Nach dem Inferno des Dritten Reiches wurde in der deutschen Psychoanalyse mit einem Handwerkszeug gearbeitet, das einer ziemlich heilen Welt entstammte.
Im Gefolge der internationalen Holocaustopferforschung, schreibt Moser weiter, hätten dann auch Deutsche angefangen, mit Überlebenden, Verfolgten und deren Kindern zu arbeiten: »Was da zutage kam, war so erschütternd, daß es, verstärkt durch die Identifikation mit den Verfolgten, nicht gerade ermutigte, sich auch den psychischen Folgen bei den Tätern, Mitläufern und deren Nachkommen zuzuwenden.«
Von den Täter- und Mitläuferkindern bis hin zu den Kriegskindern schien es noch einmal ein großer Schritt gewesen zu sein. Therapeuten mussten dafür nicht nur eigene Hindernisse überwinden. Sie befürchteten offenbar auch Gegenwind aus den Reihen ihrer Kollegen. In den Neunzigerjahren sah ich zufällig ein Lehrvideo von Tilmann Moser, in dem er eine Patientin behandelte, die an Kriegsfolgen litt. Zu meiner Überraschung leitete der ja schon damals renommierte Therapeut seine Demonstration mit einer langen Rechtfertigung ein, sinngemäß: Wenn er mit deutschen Opfern arbeite und ihre seelischen Kriegsverletzungen wahrnehme, setze er sich möglicherweise dem Verdacht aus, er wolle deutsches Leid mit dem der Holocaustopfer und anderer Naziopfer aufrechnen. Als Nächstes folgte eine ausführliche Erklärung, in der Moser sich als ein verantwortungsvoller Deutscherauswies, der die Schuld der Vätergeneration ohne Wenn und Aber anerkenne und dem es daher fernliege, das Leid der Holocaustüberlebenden durch irgendwelche Vergleiche relativieren zu wollen.
Für mich lag das Verdrehte dieser Einleitung darin, dass Moser bei seinen Kollegen um Verständnis für eine ethische Haltung warb, die zur Grundlage seines Berufs gehört: Menschen, die in Not sind, zu helfen.
Aber offenbar war vor dem Hintergrund der unheilvollen deutschen Geschichte vieles ehemals Selbstverständliche verloren gegangen. Nichts anderes drückte Horst-Eberhard Richter in meinem WDR-Radiofeature »Luftschutzkinder« aus, als er sagte: »Es gab bis in die Wissenschaft hinein die Scham, dass man sich gerecht fühlen konnte, wenn man Opferkinder untersuchte, aber nicht die Kinder der normalen Deutschen mit ihrem Elend des Ausgebombtseins, des Geflüchtetseins und der Erlebnisse der Gewalt 1945 beim Einzug der Siegermächte.«
Offenbar bedurfte es bei Menschen wie Tilmann Moser eines riesigen emotionalen Aufwandes – dem ein langer Prozess des Zweifelns und Abwägens vorausgegangen war –, um sich guten Gewissens der Kriegskindergeneration zuzuwenden. Man kann also sagen: Die Mehrheit der Ärzte und Psychologen verhielt sich nicht anders als die gesamte Gesellschaft. Sie zeigte einfach kein großes Verlangen, den Spuren der Gewalt nachzugehen. Wer sich nicht mit seiner eigenen Kriegskindheit auseinandergesetzt hatte, ignorierte die Kriegserlebnisse seiner Patienten. So einfach war das.
Wenn das Herz verrückt spielt
Der Textilkaufmann Kurt Schelling*, Jahrgang 43, weiß heute, warum seine Symptome über Jahrzehnte nicht ernst genommen wurden. »Ich hatte schon immer Herzbeschwerden, schon immer«, erzählt der hochgewachsene Mann mit dem Bürstenhaarschnitt,»und bin dann zu den Ärzten gerannt und habe gesagt: Ich steh kurz vorm Herzinfarkt. Da haben die gesagt: Du hast überhaupt nichts. Und dann haben sie mir diese wunderbare Diagnose angehängt – vegetative Dystonie.«
Die Ärzte meinten damals, dass er sich abzufinden habe. Ein nervöses Herz, das hatten viele. Die Ursache? Achselzucken. So etwas kam eben vor. Es gebe keinen organischen Befund, wurde ihm versichert, und damit auch keinen Grund, sich aufzuregen. Also lieber ignorieren.
Schelling befolgte den Rat, und tatsächlich kam er am besten mit seinem Leben zurecht, wenn er seinem Herzen, das ab und zu verrückt spielte, keine große Beachtung schenkte. Grundsätzlich fühlte er sich gesund und optimistisch und sah keinen Anlass, sein Tempo zu drosseln. Denn das Sonderbare war: Trotz seiner Beschwerden blieb er ungeheuer leistungsfähig. Schnell war er und zupackend, ein Mensch, der an einem Tag das erledigte, wofür andere zwei Tage brauchten.
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