Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
überzeugt, dies betrifft hierzulande fast jeden. Man müsste eigentlich bei jedem Menschen, der Schwierigkeiten hat, nachfragen: Wie war das bei Ihnen zu Hause? Und was war mit Ihren Eltern im Krieg? Und was war mit Ihren Großeltern? Wo waren sie? Was haben sie gemacht?«
In ihrer Zeit als Leiterin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie in Bielefeld fand sie zu der Überzeugung: Nicht nur Menschen der Kriegsgeneration können unter den Folgen ihres frühen Traumas leiden. Es gibt eben auch eine Verschiebung in die zweite und dritte Generation. Die Symptome sind die gleichen. Deshalb, so Luise Reddemann, sei auch bei jüngeren Patienten gezieltes Nachfragen so wichtig.
Hoffentlich macht das Beispiel Schule. Sollten sich die Forscher eines Tages des Themas der zweiten Generation annehmen, es würde sie vermutlich wundern, wie unspektakulär viele Geschichten erscheinen. Es sind Geschichten wie die von Hanna Kuhn*. Sie ist 44 Jahre alt, verheiratet und von Beruf Gymnasiallehrerin. Eine zierliche, mädchenhafte Frau mit blondem Pferdeschwanz, lebhaft, belesen, mit einer präzisen Wahrnehmung ausgestattet. Zufällig kenne ich zwei ihrer Schülerinnen. Sie haben mir über ihren Deutschunterricht erzählt: »Der ist interessanter als jeder Fernsehfilm.« Besonders schätzen sie an Frau Kuhn, dass bei ihr der Zugang zur Literatur »total lebendig« ist, weshalb die Mädchen herausfanden: »Selbst bei den alten Dichtern kann man eine Menge über sich und seine Umwelt lernen.«
Hanna Kuhn lächelt froh, als ich ihr das Lob weiterreiche. Dann erklärt sie mir, ihre Liebe zur Literatur sei bei ihr schon früh ausgeprägt gewesen und habe ihr die Kraft gegeben, innerlich von den Familiennormen abzurücken. Ihr Blick zurück ist wehmütig, ohne Beschuldigung, aber auch ohne jede Beschönigung. Was sie über ihre Herkunftsfamilie zu sagen hat, klingt einfach nur trostlos. »Man hatte nie das Gefühl, dass man sonderlich geliebt wurde, sondern man war eigentlich der Störenfried. Ich kann es nicht anders sagen: Wir drei Kinder waren als Störenfriede abgestempelt, ab einem bestimmten Alter.«
Ihr Vater, Handwerker von Beruf und 1932 geboren, habe sie in den ersten Jahren sehr liebevoll begleitet, erzählt sie. Sie hätten gemeinsam Spaziergänge gemacht, eifrig habe sie seinen wunderbaren Märchen gelauscht. Sie war die Prinzessin, wer sonst? Aber dann, als Hanna fünf oder sechs Jahre alt war, schlug das Gemeinsame, ja das Verschwörerische in sein Gegenteil um, in Misstrauen und Missbilligung. Der Vater sah nur noch Anlässe, seine Tochter zu kritisieren. Für Hanna Kuhn ist es kein Zufall, dass er ihr seine Zuneigung entzog, als sie die ersten selbstständigen Schritte machte – eine wichtige Entwicklungsstufe, ein Alter, in dem es normal ist, dass Papa nicht mehr nur grenzenlos bewundert wird. Aber Hannas Vater ertrug das offenbar nicht. Erging auf Distanz. An ihren Entwicklungsschritten zeigte er sich nicht mehr interessiert. Das ist bis heute so geblieben.
»Ein weiteres Problem war«, berichtet sie, »dass meine Eltern in der Regel nicht sonderlich solidarisch mit ihren drei Kindern waren. Wir sollten brav sein – bloß nicht auffallen.«
Auf diese Weise wachsen Kinder heran, die sich ständig kontrolliert, aber nicht geschützt fühlen. Haben sie Schwierigkeiten mit anderen Kindern, mit den Lehrern oder in der Nachbarschaft, dann gibt es für sie keinen elterlichen Beistand. Dann sind sie immer selbst schuld. Dann hören sie: »Das hast du dir selbst eingebrockt, also sieh zu, wie du da wieder rauskommst . . .«
Eltern, die vor allem Neuen zurückschrecken
Eigentlich fanden Hannas Eltern es unnötig, ihre Tochter aufs Gymnasium zu schicken, aber die Grundschullehrerin setzte sich massiv für die Zehnjährige ein, und da gaben Mutter und Vater widerwillig ihre Zustimmung. Als dann die Noten nachließen, weil für Hanna die Umstellung auf den neuen Schultyp schwierig war, standen die Eltern mit verschränkten Armen vor ihr, rührten keinen Finger, sagten keinen Ton. Kein Tadel, aber auch keine Hilfe.
»Ich meine, ich hatte keine grausamen Eltern, so darf man sich das nicht vorstellen«, sagt sie heute dazu. »Aber die Grundstimmung war eben: Warum wollte unsere Tochter auch unbedingt da hingehen? Warum dieser Umstand? Wir haben es ja von Anfang an gewusst . . .«
Hannas Eltern waren Menschen, die vor allem Neuen zurückschreckten. Darum stellten sie keine Fragen. Das ist bis heute so. Es verstörte sie,
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