Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Brumlik mit Nachdruck. »Das hat er aus einer moralischen Verpflichtung heraus übernommen, und je älter er wird, umso deutlicher wird zugleich, wie er an dieser moralischen Verantwortung leidet, und zwar so sehr, dass dann zum Schluss in unterschiedlicher Form tatsächlich antisemitische und judenfeindliche Äußerungen sich in seinem Werk häufen.«
Bei den jüngeren Deutschen wiederum wächst die Wunschvorstellung, die eigene Familie möge auf der Seite der Gerechten gestanden haben. Als ich über das Gespräch mit Brumlik nachdachte, fiel mir die wundersame Vermehrung der Widerstandskämpfer in Deutschland ein. Nach einer repräsentativen Umfrage des Emnid-Instituts, die zusammen mit Interviews in dem Buch »Opa war kein Nazi« veröffentlicht wurde, gibt es in Deutschland eine große Diskrepanz zwischen dem Familiengedächtnis und der Erinnerungskultur. Während im offiziellenGedenken unablässig der Holocaust und die Verbrechen der Deutschen betont würden, schrieb dazu der Mitautor des Buches Harald Welzer in der »Süddeutschen Zeitung«, kultiviere das Alltagsgedächtnis ein Bild, in dem die Nazis die anderen, nie aber Mitglieder der eigenen Familien seien. Besonders die Enkelgeneration deute die in der Familie gehörten Geschichten um: zu Erzählungen vom alltäglichen Widerstand, vom couragierten Verhalten in gefährlicher Zeit. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung spiele im Familiengedächtnis nur eine marginale Rolle.
Und dies sind die Zahlen, die zeigen, wie wohlwollend eigene Familienangehörige bezüglich ihrer Rolle und Haltung in der Nazizeit eingestuft werden. Bei der Umfrage kam folgende Vorstellung heraus: Ein Viertel der damals erwachsenen Bevölkerung hat Verfolgten geholfen, 13 Prozent waren im Widerstand aktiv. Ganze 3 Prozent sind Antisemiten gewesen.
Die Umfrageergebnisse müssen uns wachsam halten. Der Trend des Schönredens und auch des Heroisierens ist allzu deutlich. Er könnte, sollte Deutschland eines Tages von weit schlimmeren Krisen geschüttelt werden, als heute vorstellbar sind, in gefährlicher Weise zunehmen und Menschen in großen Mengen in die Arme von neuen Nazis treiben.
Womöglich brauchen wir, damit der Weg zu einer realistischen Einschätzung eigener Familienangehöriger frei wird, nicht ein Mehr des öffentlichen Gedenkens der Naziopfer, sondern stattdessen Raum für eine Gedenkkultur der eigenen Opfer.
Dazu gehören aber nicht nur diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg Angehörige verloren. Am wichtigsten scheint mir heute zu sein, sich bewusst zu machen, dass es sich bei vielen ehemaligen Kriegskindern um Überlebende handelt, die unsere Solidarität brauchen.
Wenn Überleben eine gemeinsame Identität stiftet
Eine weitere Erkenntnis aus der Traumaforschung besagt, dass üblicherweise kollektive Katastrophen leichter verkraftet werden als individuelle. Der Grund liegt darin, dass das gemeinsame Überleben eine verbindende Identität stiftet. Das geschieht aber nur dann, wenn es eine gesellschaftliche Anerkennung des Leids gibt. Auf diese Weise entsteht auch eine gegenseitige Solidarität.
Dies aber war bei den Angehörigen der Kriegskindergeneration nicht der Fall. Da ihre Leiden nicht öffentlich wahrgenommen wurden, kamen sie auch als Erwachsene nicht dazu, so etwas wie Solidarität oder gar eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Häufig geschah das Gegenteil: Wenn Menschen laut sagten, dass sie der Krieg weiter verfolge, wurden sie als labil abgestempelt und auf diese Weise schnell zum Verstummen gebracht.
Natürlich gab es die Ausnahmen, Menschen, die von ihren Eltern immer wieder hörten: »Ihr hattet es schwer in der Kindheit, sehr schwer.« Aber wenn ein Thema grundsätzlich in einer Gesellschaft verschwiegen wird, wissen die Ausnahmen nicht, wie gut sie es im Vergleich zu anderen hatten. Sie halten dann aufdeckende Beiträge in den Medien für maßlos übertrieben. Sie können einfach nicht nachvollziehen, wie hart das Leben zu Menschen sein kann, die traumatisiert sind – aber davon keine Ahnung haben!
Auch hier gibt es eine Parallele zur Frauenbewegung. Natürlich hatte es auch in den Siebzigerjahren schon Frauen gegeben, die sich nie unterdrückt gefühlt hatten, die ihre Sexualität genossen, weshalb sie die ganze Aufregung nicht verstanden. Soziale Ungerechtigkeit? Gibt es überall. Mangelnde Berufschancen? Selbst schuld. Sexueller Missbrauch? Wohl doch eher alles Einbildung. Gewalt gegen Frauen? Wo denn?
Erst wenn die beste Freundin
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