Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
einer groß angelegten Trauerfeier gedacht. In der Kirche war Hildegard Schwarz ohne Begleitung, und sie wollte auch allein sein.
»Ich kann mich erinnern, dass ich fassungslos und hemmungslos im Gottesdienst weinte, und ich war wohl auch die Einzige«, erzählt sie mir acht Jahre später. »Und ich habe auch in Erinnerung, dass die, die ich von früher kannte, mich auch erkannt haben. Doch ich wollte nicht mit ihnen sprechen. Warum, das weiß ich nicht genau.« Es könne damit zusammenhängen, überlegt sie weiter, dass ihre Familie nach dem Kriegdurch die Sucht des Vaters sozial geächtet war, was sie 1995 noch nicht verarbeitet hatte. »So souverän war ich eben damals noch nicht.«
Bis zu dieser Trauerfeier in der Stadt ihrer Kindheit besaß Hildegard Schwarz keinerlei emotionalen Zugang zu dem, was ihr als Zehnjährige widerfahren war. Nie klagte oder weinte sie, weil sie ihre Mutter und ihre drei Geschwister bei einem Bombenangriff verloren hatte. Tatsächlich sprach sie so gut wie nie darüber, und wenn doch, dann so nüchtern, als läse sie aus einer Zeitung vor. Keine Trauer. Stattdessen ein Rationalisieren, so wie sie es als Jugendliche als Überlebensstrategie eingeübt hatte.
Anfang der Neunzigerjahre geschah es, dass sie im Fernsehen einen Beitrag über den Luftkrieg in Deutschland sah und gleichzeitig fassungslos über ihre Tränen war. Als sie am Telefon ihrer Tochter sagte, sie könne sich ihr Weinen absolut nicht erklären, denn dies gehe sie doch alles nicht persönlich an, verschlug es der Tochter die Sprache. Wie war es möglich, dass ihre Mutter sich selbst nicht als ein Opfer des Bombenkriegs empfinden konnte?
Im März 1945 hatte Hildegards Mutter, von den Fliegern überrascht, mit ihren vier Kindern an der Außenmauer eines Hauses Deckung gesucht. Genau auf dieses Haus war dann eine Bombe gefallen. Die kleine Hilde hatte den Piloten gesehen, er flog sehr tief. »Das heißt, er hatte es ganz gezielt auf dieses Haus und die Menschen abgesehen«, stellt Hildegard Schwarz fest. Die ganze Familie wurde verschüttet. »Ich konnte mich nicht bewegen. Ich lag direkt auf meinem älteren Bruder.« Der Junge fragte: »Wo ist Mutti, wo sind die anderen?« Und Hilde sagte: »Die sind tot. Die sind im Himmel.« Dann beteten beide das Vaterunser. Danach starb der Bruder unter ihr, und Hilde verlor das Bewusstsein.
Als sie zwei Tage später aus den Trümmern geborgen wurde, brannte die Stadt immer noch. Die Zehnjährige war unverletzt, aber ihre Beine trugen sie nicht mehr. Im Leiterwagen wurde sie zur Beerdigung gebracht. Es dauerte Wochen, bis sie wieder laufen konnte.
Ihr Vater verkraftete den Verlust seiner Familie nicht. Er verfiel der Sucht. Als Arzt war es ihm ein Leichtes, an Rauschmittel zu kommen. Er sackte sozial immer tiefer ab, wurde zum Gespött der Kleinstädter. Hildegard schämte sich und machte ihm heftige Vorwürfe. Nach seinem frühen Tod zog die Tochter fort. Sie studierte, heiratete, bekam drei Kinder, baute eine eigene Familie auf. Aber eine gute Ehe führten sie und ihr Mann nicht. Weder fanden sie eine erträgliche Form des Zusammenlebens, noch konnten sie sich trennen. Hildegard Schwarz besaß nicht die Kraft, Entscheidendes zu verändern – bis zu dem Zeitpunkt, als sie in der Kirchenbank saß und endlich weinen konnte. Erst bei dieser Trauerfeier wurde ihr klar: »Du hast das Recht zu klagen! Du bist gar kein schwieriger Mensch. Das, was du erlebt hast, war schwer!«
Nach dem Gottesdienst schloss sie sich einem Fackelzug an, der durch die ganze Stadt führte. »Da waren Stationen, wo Gebete gesprochen wurden«, erzählt sie. »Und dann sind wir am Friedhof vorbeigegangen, der liegt am Berg. Und am Fuß, zur Straße hin, steht eine Kapelle. Hier hatten sie eine Tafel mit den Namen zum Gedächtnis der Opfer angebracht. Es tat mir gut, dass ich die Namen meiner Mutter und meiner Geschwister lesen konnte.«
Ein Ritual entfaltet seine Wirkung
In den folgenden Wochen und Monaten entfaltete das Ritual seine Wirkung. Rückblickend erkannte Hildegard Schwarz: Es war einer der wichtigen Wendepunkte in ihrem Leben. Eine Befreiung. Dieses Kapitel ihrer Kindheit sei nun abgeschlossen, sagt sie, in dem Sinne: Es ist keine Last mehr. Ihr Wesen habe sich inzwischen sehr verändert. Oder besser: Sie habe endlich die seelischen Räume wieder aufgemacht, wo sie eigentlich zu Hause sei. »Dabei ist mir bewusst geworden«, sagt sie, »dass ich als Kind ein heiteres, unbeschwertes quirliges Ding
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