Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
es so war, dass sie zu mehreren brutal über einen Wehrlosen herfielen, glaubten sie später, ihr Opfer habe nur ein paar Schrammen abbekommen – auch dann, wenn Polizeifotos sie mit einem übel zugerichteten Gesicht konfrontierten.
Sie empfinden sich nicht als Gewalttäter, sondern als junge Männer, die gern raufen. Es wird schlichtweg geleugnet, dass sie ein Verbrechen begingen. Stattdessen spielen sie die Tat herunter: So schlimm kann es nicht gewesen sein, so was kann doch im Eifer des Gefechts vorkommen . . .
Es hat sich nun herausgestellt, dass bei vielen dieser Menschen, die in Romanen als »gefühlskalt« bezeichnet werden, ein schweres Kindheitstrauma zugrunde liegen kann. In den meisten Fällen waren auch sie Opfer von Gewalt, zum Beispiel von Missbrauch in der Familie. Als Außenstehender kommt man an dieser Stelle schnell auf den Gedanken, dass das nichts als ein Trick des Täters sei, um sich selbst als Opfer zu stilisieren, damit er Mitleid erweckt und mit Nachsicht behandelt wird. Allerdings hat die psychotherapeutische Arbeit mit psychisch kranken Straftätern gezeigt, dass sie sich in der Regel mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung wehren, als Kind ein hilfloses Opfer gewesen zu sein. Auf keinen Fall wollen sie sich den alten Gefühlen des Ausgeliefertseins aussetzen. Die hatten sie lange Jahre gut weggepackt, verdrängt, vergessen. Und da sie als Traumatisierte ihr eigenes Leid nicht wahrnahmen, waren sie auch völlig gefühllosgegenüber anderen Menschen, denen sie nun ihrerseits Gewalt antaten.
In der Therapie ist nun der zentrale Punkt der, dass die Täter sich ihres Traumas bewusst werden und dabei ihren seelischen Schmerzen wiederbegegnen, dass sie also die in ihnen steckende tiefe Verzweiflung und Ohnmacht erfahren. Nicht wenige sträuben sich bis zuletzt gegen die Therapie; sie empfinden sie als eine Art Folter. War die Behandlung aber erfolgreich, sind sie danach in der Lage, auch Mitgefühl für ihre Opfer zu entwickeln.
»Eine traumatische Kultur«
Als ich nach Frankfurt fuhr, um dort Micha Brumlik zu interviewen, hatte ich mit vielem gerechnet, aber nicht, dass ich bei unserem Gespräch noch einmal den Erkenntnissen der Täter-Opfer-Forschung begegnen würde. Ich hatte ihn besucht, weil er in einer Veröffentlichung Deutschland »eine traumatische Kultur« genannt hatte, und das fand ich bei einem Holocaustforscher jüdischer Herkunft ungewöhnlich.
Gleichzeitig war seine Aussage unmissverständlich. Sie hieß: Das Grauen, das die Vernichtungslager auch später noch in den Seelen der überlebenden Opfer verbreiteten, war weit schwerer zu ertragen als das Nachwirken von Kriegsgewalt, Bomben, Flucht und Hunger.
»Gleichwohl ist es wichtig, dass die Deutschen auch ihre eigenen Verletzungen wahrnehmen«, sagte Brumlik, »denn solange dies unterbleibt, können sie nicht wirklich Empathie, sprich einfühlendes Verständnis für andere Opfer entwickeln.« Dabei hatte er vor allem jene Jahrgänge im Blick, die nun dem Ruhestand zustreben oder sich bereits darin eingerichtet haben.
Das verblüffte mich, war ich doch gerade in der Generation der Kriegskinder auf eine ungewöhnlich starke, manchmal fast übermäßige Bereitschaft gestoßen, sich mit den Naziverbrechen unddem Leid der Holocaustüberlebenden zu befassen. Und ihnen ausgerechnet sollte es an Mitgefühl mangeln?
Ja, das sei möglich, sagte Brumlik, wobei er allerdings hinzufügte: »Ich glaube, es hat diese Generation, sofern sie politisch bewusst war, ihre ganze psychische Kraft gekostet, diesen moralischen Blick gegen die zum Teil verbrecherische Elterngeneration aufzubieten, und diese Kraft konnte wahrscheinlich nur dadurch mobilisiert werden, dass das eigene Leiden verdrängt worden ist.«
Wenn aber die Haltung »Nie wieder Auschwitz« ausschließlich einer moralischen Position entspringt, dann folgt daraus, wie Brumlik sich ausdrückte, eine moralische Verpflichtung gegenüber den Opfern, jedoch kein Einfühlen in ihr Leid. Und diese Pflicht mag gerade vielen Älteren in Deutschland über die Jahrzehnte zu einer Last geworden sein, die sie nun gern loswürden. In diesem Zusammenhang erinnerte Brumlik an Martin Walser, der sich ja tatsächlich in seinen jungen Jahren in einer Fülle von Stücken und Essays mit der Massenvernichtung und Auschwitz auseinandergesetzt habe, aber offensichtlich so, dass das innerlich völlig an ihm vorbeigegangen sei. »Das ist nicht das gewesen, wofür sein Herz geblutet hat«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher