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Die vergessene Insel

Die vergessene Insel

Titel: Die vergessene Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gezeigt. Und so hatte Mike den
schmalen
weißen Umschlag mit einem flauen Gefühl im Magen
geöffnet, das sich nur zu sehr bestätigte.
Um es kurz zu machen: Mike würde die Weihnachtsferien und auch den Silvesterabend dieses Jahres auf
Andara-House verbringen, statt zu seinem Vormund
nach Indien zu reisen, wie er es in den letzten sechs
Jahren immer in den Ferien getan hatte. In dem Brief
hatte auch eine wortreiche und umständliche Erklärung für diese bedauerlichen Umstände gestanden
- irgend etwas von politischen Wirren und einer unguten Entwicklung im Lande, die es für ihn nicht ratsam erscheinen ließe, in seine Heimat zurückzukehren; zumindest nicht im Moment.
Wie immer, wenn er in Gedanken versunken war,
spielten Mikes Finger unbewußt mit dem durchbrochenen Goldamulett, das er an einer dünnen Kette um
den Hals trug - das einzig persönliche Andenken an
seinen Vater, das er besaß. Nicht ratsam! Mike hatte
vor lauter Enttäuschung und Zorn am liebsten laut
losgeheult. Was interessierten ihn politische Wirren
und eine allgemeine ungute Entwicklung der Dinge?!
Er wollte über die Feiertage nach Hause, wie es alle
anderen Schüler hier durften, und er konnte und wollte auch nicht einsehen, was ein sechzehnjähriger Junge mit politischen Wirren zu schaffen hatte! Wäre
sein Vater noch am Leben gewesen oder irgendein anderer Verwandter, der vielleicht eine wichtige Rolle
in Politik und Wirtschaft seines Landes spielte, ja,
dann hätte er das vielleicht verstanden. Aber so...
Mike war ein Waisenkind. Seine Eltern waren bei einem Unfall ums Leben gekommen, als Mike noch
nicht einmal zwei Jahre alt war. Sein Vater war Inder
und als hoher Beamter im britischen Dienst tätig ge
wesen. Er hatte seine Frau, eine mittellose Engländerin, auf einem Wohltätigkeitsfest kennengelernt und
sich auf der Stelle in sie verliebt.
Nach dem Tod seiner Eltern lebte Mike bei seinem
Vormund, einem Bekannten
seines Vaters, bis er alt
genug war, umwie es testamentarisch festgelegt
war - nach Europa zu gehen und dort eine gute Schulausbildung zu beginnen. Mike wußte, daß sein Vater
ihm ein ansehnliches Vermögen und ein kleines Gut
hinterlassen hatte, das er aber nicht kannte. Sooft er
seinen Vormund bat, doch mit ihm einmal dort hinzufahren, winkte dieser ab. Die Reise sei zu weit und zu
strapaziös, an seinem einundzwanzigsten Geburtstag
gehe alles in Mikes Besitz über, und dann könne er
auch dort leben, wenn er wolle.
Obwohl er von Geburt aus Inder war, fühlte sich Mike
diesem Volk nicht zugehörig. Außerdem sah er nicht
einmal wie ein Inder aus. Seine Haut war vielleicht
ein wenig dunkler als die eines Europäers, sein Haar
tiefschwarz und sein Wuchs sehr schlank, dabei aber
durchaus
kräftig, aber man hätte schon sehr genau
hinsehen müssen, um einen Unterschied zu irgendeinem der anderen Schüler von Andara-House zu entdecken. Sein Vormund hatte ihm einmal gesagt, daß
er wohl mehr nach
der Familie seiner Mutter schlage
und ihr im übrigen wie aus dem Gesicht geschnitten
sei.
Mike war so sehr in seine Gedanken versunken, daß
ihm erst nach einer geraumen Weile auffiel, daß er
nicht mehr allein im Zimmer war.
Hinter ihm stand Paul, einer seiner beiden Zimmerkameraden. Die
beiden kannten sich
seit fünf Jahren
und waren gute Freunde geworden.
»Hallo«, sagte Mike einsilbig.
»Immer noch damit beschäftigt, Trübsal zu blasen?«
erkundigte sich Paul. Er grinste. Es wirkte nicht ganz
echt, und es diente genau wie sein lockerer Ton nur
dazu, Mike aufzuheitern. Leider funktionierte es nicht.
»Wie kommst du darauf?« knurrte Mike und stand so
heftig auf, daß sein Stuhl scharrend über den Boden
fuhr und beinahe umgekippt wäre. »Ich platze gleich
vor Freude. Kannst du dir etwas Schöneres vorstelen, als Weihnachten hier zu verbringen und Silvester mit einem Glas Erdbeersaft mit Mclntire anzustoßen?«
»Du bist ja nicht ganz allein«, sagte Paul.
Was für ein Trost, dachte Mike sarkastisch. Tatsächlich waren sie in diesem Jahr zu fünft, was die Zahl
der Schüler anging, die aus dem einen oder anderen
Grund nicht nach Hause konnten und die Ferien hier
verbrachten. Mike hätte allerdings auf die Ehre, dazu
zu gehören, liebend gern verzichtet. Er ersparte sich
deshalb jede Antwort.
Paul ging zu seinem Bett und nahm den Koffer auf,
der schon seit dem gestrigen Abend fertig gepackt
dort stand. Der Anblick gab Mike einen neuerlichen
Stich. Natürlich hatte er gewußt, daß Paul heute abreiste - aber es jetzt zu sehen gab ihm

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