Die vergessene Insel
vielleicht fünfzig Meter
vor ihnen stieg weißer Rauch, und noch etwas weiter
hinten war eine Anzahl Männer damit beschäftigt,
einen Lastkarren zu entladen, davon abgesehen jedoch machte die Gegend einen ziemlich verlassenen
Eindruck. Das Bild auf der anderen Seite war noch
trostloser. Das Wasser der Themse schwappte träge
gegen den Kai, und statt der erwarteten Ozeanriesen
schwammen nur einige Abfälle auf den braunen, öligen Wellen.
»Nun, wo ist denn dein famoses Schlachtschiff?« hörte
er Juans Stimme hinter sich fragen.
Mike unterdrückte den Ärger, mit dem ihn diese Worte erfüllten. Sicher, er war auf der Fahrt hierher nicht
müde geworden, ihnen allen von der LEOPOLD vorzuschwärmen, die er ja aus Pauls Erzählungen zumindest theoretisch kannte, und wenn sie seinen Worten
auch nur halbwegs Glauben schenkten, dann mußten
sie zu der Überzeugung gelangt sein, daß das größte
Abenteuer ihres Lebens auf sie wartete. Und alles,
was sie im Moment sahen, waren ein schmuddeliger
Kai, ein halbes Dutzend leerstehender Lagerschuppen
und einige Hafenarbeiter.
»Es ist nicht mein Schlachtschiff«, antwortete er betont und drehte sich um. »Außerdem ist die LEOPOLD manövrierunfähig, wie du sehr wohl weißt. Sie
schicken ein Boot, das uns abholt.«
»Und an Bord eines deutschen Kriegsschiffes bringt,
das vor der Themsemündung
liegt?« fügte Juan in
herablassendem Tonfall hinzu. »Und das glaubst du
sogar, wie?« Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihn spöttisch an, und hinter ihm
hatten jetzt Ben und André Aufstellung genommen.
Nur Chris, mit seinen neun Jahren der Jüngste von
ihnen, hatte sich ein paar Schritte weit vom Wagen
entfernt und sah auf den Fluß hinaus.
Dabei trat er
unentwegt von einem Fuß auf den anderen.
»Wir haben gestern abend darüber gesprochen«, fuhr
Juan mit einer Geste fort, die sowohl die beiden anderen als auch Chris einschloß. »Wie selbst dir nicht
entgangen sein dürfte, kriselt es zwischen England
und Deutschland, und du glaubst im Ernst, daß in dieser Zeit die englische Regierung zusieht, wie ein deutsches Kriegsschiff vor der Themsemündung herumschippert?«
Mike wäre nie auf die Idee gekommen, Politik mit seinen persönlichen Gefühlen einem anderen Menschen
gegenüber in Verbindung zu bringen. Aber er wußte,
daß das nicht bei allen Schülern des Internats so war.
Gerade in den letzten Monaten hatte Paul sich einige
böse Bemerkungen anhören müssen, weil sein Vater
Kapitän der deutschen Kriegsmarine war. »Was hat
das eine mit dem anderen zu tun?« fragte er mürrisch.
»Kapitän Winterfeld ist ganz privat hier, um Paul abzuholen.«
»0 ja, und zu diesem Zweck bringt er gleich sein großartiges Schiff mit, wie?« fragte Juan spöttisch.
Mikes Blick glitt über die Gesichter der anderen. Ben
sah ihn schadenfroh an, und selbst André lächelte abfällig.
Mike kannte den jungen Franzosen kaum. Er lebte
zwar
seit zwei Jahren auf Andara-House, und über
seine Herkunft gab es verschiedene Gerüchte, nach denen er mal der letzte Sproß eines im Aussterben begriffenen französischen Adelsgeschlechtes
war,
dann
wieder der Sohn eines Pariser Millionärs, dessen Vater keine Zeit hatte, sich um ihn zu kümmern,
oder
auch das uneheliche Kind einer weltbekannten Schauspielerin. André sprach zwar ein fast akzentfreies Englisch - aber nur, wenn es unbedingt notwendig war.
Mike wandte sich wieder Juan zu. Im Gegensatz zu
André macht der Spanier kein Geheimnis um
seine
Herkunft. Er war tatsächlich der Sohn eines andalusischen Fürsten; und er machte keinen Hehl daraus,
daß er sich eine Menge auf das blaue Blut seiner Familie einbildete - und vor allem deren Geld.
»Wenn ihr das glaubt, warum seid ihr dann überhaupt mitgekommen?« frage Mike scharf.
»Vielleicht, um rauszufinden, was hier wirklich los
ist«, antwortete Juan mit einem Achselzucken. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und begann auf
den Absätzen zu wippen.
»Außerdem ist es immer noch besser, als im Internat
rumzusitzen und sich zu langweilen«, fügte Ben hinzu. »Wenn dein Freund nicht kommt, sehen wir uns
eben den Hafen an.«
Mike funkelte ihn ärgerlich an. Juan und Ben hatten
vielleicht äußerlich nicht viel gemein, aber eines war
bei beiden gleich: Mike konnte sie nicht besonders gut
leiden.
»He, was ist denn da los?« McIntires Stimme drang
scharf an Mikes Ohr und hinderte ihn an einer wütenden Antwort. Der Direktor von Andara-House kam
mit weit ausgreifenden
Schritten
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