Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
Regung, die Mumie ist in ihren tausendjährigen Schlaf gefallen.
»Ja, und?« Kimski sieht auf die Uhr. Resigniert lässt er sich auf den Stuhl zurückfallen.
»Georg hat einige Archive durchwühlt ... und hat einen sehr interessanten Verdacht.«
»Papa, ich habe nachher noch einen Termin.«
»Georg vermutet, dass dein Großvater Halbjude war.«
»Was?«, fragt Kimski ungläubig.
»Was?«, möchte nun auch Georg wissen. Die Mumie ist wieder erwacht.
»Dein Großvater, der noch bis zu seinem Tod ein richtiger Antisemit war, eine schöne Ironie ... was?«
»Ich habe überhaupt nicht gesagt, dass unser Vater Halbjude war, Adolf. Das hast du jetzt behauptet.«
»Ilja ... ich heiße Ilja! ... Und außerdem, denk doch mal mit ... Du hast selbst gesagt ... Vater war wahrscheinlich das uneheliche Kind eines Unternehmers.«
»Aber ich habe nicht gesagt, dass dieser Jude war. Ich habe mich lediglich informiert. So klingt der Name Dreyfuß vielleicht jüdisch, er kann aber auch der einer deutschen Familie sein. Es gibt Nachnamen, die sowohl jüdischen als auch deutschen Ursprungs sind.«
»Na ... was wirst du denn gleich so pampig ... Passt dir wohl auch nicht, jüdische Vorfahren zu haben?«
»Nein, es ist nur ...«
»Ja, ja.«
Kimski ist verwirrt. Sein Großvater ein Halbjude und Antisemit? Was weiß er eigentlich über seinen Großvater? Er war noch ein Kind, als der Alte starb. Er kannte ihn kaum und doch sind die wenigen Erinnerungen, die er an ihn hat, positiv. Wenn er bei seinem Großvater war, war dieser für ihn eher wie ein Rettungsanker, eine Art ruhiger Hafen in den stürmischen Zeiten, wenn sich seine Eltern wieder einmal in den Haaren lagen.
»Wie hast du das überhaupt herausgefunden, Georg?«
»Ich habe einige Unterlagen im Nachlass unserer Großmutter gefunden. Sie hat bis zu ihrem Tod niemals öffentlich gemacht, wer der Vater unseres Vaters war. Aber aufgrund einiger ihrer Briefe aus dem Jahr 1919 kommt der Verdacht auf, sie hätte mit dem Sohn der Mannheimer Unternehmerfamilie Dreyfuß eine Liaison gehabt. Sie arbeitete damals als Dienstmädchen dort. Unser Vater, dein Großvater, wurde ja 1920 geboren.«
Kimski steht auf.
»Klingt interessant, aber ich muss jetzt wirklich gehen.«
»Es würde doch alles zusammenpassen ...«, sagt der Revolutionär. »Das Aufbegehren gegen den jüdischen Vater, der die Familie nicht anerkannt hat ... ist bei deinem Großvater in Hass umgeschlagen ... Ich bin mir sicher, dass dein Großvater wusste ... wer sein Vater war.«
»Also dann«, sagt Kimski und öffnet die Tür. »Bis dann, Onkel Georg.«
Georg hebt leicht die Hand und winkt ihm zu.
»Wir sind Juden, Georg ... Jetzt schließt sich der Kreis!«
»Ach, Adolf.«
Kimski tritt auf den Flur.
»Ilja!!«, hört er seinen Vater noch rufen, als die Tür hinter ihm zuschlägt. »Ilja!«
2.
Samstag, 19. April
Heidelberg
»... wie die Polizeidirektion Heidelberg heute bekannt gab, handelt es sich bei dem tödlichen Autounfall, der sich während des schweren Unwetters am Mittwochnachmittag in der Nähe von Waldheim im Odenwald ereignet hat, nicht, wie zunächst angenommen, um ein Unglück. Die Ermittler fanden am Tatort Spuren, die auf ein zweites, am Tathergang beteiligtes Fahrzeug hindeuten. Des Weiteren erklärte der Pressesprecher der Polizei, dass man davon ausgehe, dass der junge Mann, der in seinem Fahrzeug verstarb, nicht den Folgen eines Unfalls erlag. Die Polizei schließt äußere Gewaltanwendung nicht aus.
Außerdem wurde zur selben Zeit im vom Fundort nur drei Kilometer entfernten Bergküttelsbach die verbrannte Leiche eines älteren Mannes in seinem Haus aufgefunden. Zunächst ging die Feuerwehr davon aus, dass das schwere Unwetter die Brandursache gewesen ist. Inzwischen vermutet man aber Brandstiftung.«
Kimski schaltet das Autoradio aus. Vor ihm erhebt sich im sanften Licht des Spätnachmittags die Heidelberger Altstadt auf den Hängen des Vorderen Odenwalds. Die Fahrt von Mannheim dorthin dauert mit dem Auto gerade mal zwanzig Minuten, aber man fühlt sich, als betrete man eine andere Welt. Heidelberg ist wie ein Paralleluniversum.
Kimski fährt entlang des Neckars und hält Ausschau nach einem Schild, das zum Carl-Bosch-Museum weist. Der Beschilderung zu folgen sei laut der Dame, die heute Morgen einen Termin mit ihm vereinbart hat, der einfachste Weg, um zum Schloss-Wolfsbrunnenweg zu gelangen. Er solle sobald als möglich bei ihr vorbeikommen, hatte sie gesagt. Am Telefon
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