Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
hier bleibst?«
Hat er sie das gerade wirklich gefragt?
»Du bist süß«, sagt Eva. »Aber ich muss fliegen. Ich muss diese Reise jetzt machen, einmal im Leben. Verstehst du?«
Kimski nickt zaghaft. Was will sie ihm damit sagen, er sei süß? Das ist so ein typischer Frauenausdruck, den er noch nie verstanden hat.
Heißt das, dass sie auf ihn steht? Und steht er überhaupt auf sie? Ist das wieder nur eine Anwandlung, weil sie ihn aus dem Kofferraum eines Autos gerettet hat, oder ist er sich nun tatsächlich über seine Gefühle für sie im Klaren? Sie lächelt ihn an, dann umarmt sie ihn.
»Holst du mich ab, wenn ich zurückkomme?«
»Mal sehen«, sagt Kimski. »Wer weiß, was in einem Jahr alles passiert.«
»Ja, mal sehen.«
Sie lässt ihn los, nimmt ihr Handgepäck und geht. Nach ein paar Metern dreht sie sich noch einmal um.
»Bau bitte keinen Scheiß, während ich weg bin. Dann ist nämlich niemand da, der dir den Arsch retten kann, wenn du dich mal wieder in Lebensgefahr begibst.«
Wehmütig blickt er Eva hinterher, während sie den langen Gang zur Passkontrolle hinuntergeht. Der Anblick versetzt ihn in ein bisher unbekanntes Gefühl von Traurigkeit. Das kann ein langes Jahr werden. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden ist, sieht er auf die Uhr. Es hilft alles nichts, er hat noch einen Termin, also bricht er auf.
Die Sonne scheint strahlend hell, als er in Mannheim ankommt. Er parkt in der Nähe seiner Wohnung und läuft zu Fuß zur neuen Synagoge. Bereits von Weitem sieht er Menschen und einen Polizeiposten vor dem Eingang stehen. Im Foyer wimmelt es von Besuchern und Interessierten, die sich die Führung durch das Gotteshaus und die Stände zur Feier anlässlich der Gründung Israels vor 60 Jahren nicht entgehen lassen wollen.
Vor dem Zugang zum Gebetsraum stößt Kimski beinahe mit einem Kamerateam des Rhein-Neckar-Fernsehens zusammen. Er setzt sich eine schwarze Kippa auf und betritt den Saal. Die Hände in den Taschen vergraben kommt er zwischen den Stuhlreihen zum Stehen.
Vorn am Altar hat sich eine Gruppe um eine Dame versammelt, an deren Pullover ein weißes Namensschild befestigt ist. Sie referiert darüber, wie ein jüdischer Gottesdienst gefeiert wird.
Kimski lässt seinen Blick über die Empore schweifen. Er war noch nie zuvor in einer Synagoge. Und jetzt? Wie fühlt er sich? Nach all dem, was er über seinen Großvater erfahren hat. Er kann es nicht sagen, da er es nicht weiß.Wie soll er sich auch fühlen? Ein Gefühl der Leere erfüllt ihn, worüber er nicht unglücklich ist. Ihm fällt eine alte Dame auf, die verlassen in einer der hinteren Bankreihen sitzt. Bedächtig läuft er zu ihr hin und setzt sich neben sie.
»Frau Maibaum?«
»Ja.«
»Ich bin Leonard Kimski, sehr erfreut.«
Er betrachtet sie einen Moment. Sie sieht gut aus, beinahe jugendlich für ihr Alter. Früher war sie sicher eine sehr schöne Frau.
Gestern hatte sie sich unverhofft bei ihm gemeldet. Er war total baff, da er fälschlicherweise angenommen hatte, sie wäre bereits tot. Dabei lebt sie, froh und munter, bei ihrer Schwester und ihrem Schwager in Frankreich. Von der Verhaftung ihres Sohnes hat sie in den Nachrichten gehört. Das veranlasste sie, weiter zu recherchieren und sich eine deutsche Tageszeitung zu kaufen. Dabei war sie auf Kimskis Namen gestoßen. Sie würde gern mit ihm über ihren Sohn reden, hatte sie gesagt. Das ist gut, hatte er geantwortet, er habe auch noch ein paar Fragen.
»Wie geht es meinem Sohn?«
»Ich weiß nicht. Ihm wird es den Umständen entsprechend gut gehen. Er sitzt in Heidelberg in Untersuchungshaft.«
»Wann kann ich ihn besuchen?«
»Sie müssen einen Termin beantragen, was ein paar Tage dauern kann.«
Neben ihm beginnt Klara zu schluchzen. Kimski zieht ein frisches Taschentuch aus seiner Jackentasche hervor und reicht es ihr. Unbedarft legt er seine Hände auf die Stuhllehne vor sich und starrt in den Raum. Eine weinende Frau an seiner Seite, das ist eine der Situationen, in denen er nicht weiß, wie er sich verhalten soll.
»Er hatte es nicht leicht im Leben, das müssen Sie wissen«, sagt sie plötzlich. »Sebastian ist doch ohne Vater aufgewachsen.«
Kimski weiß ganz genau, wovon sie redet. Er ist ja auch nur mit einem Elternteil aufgewachsen. Und immer diese bohrende Frage, woran es gelegen habe, dass seine Mutter eines Morgens einfach nicht mehr aufgetaucht ist. Als Kind hat er sich gefragt, ob es seine Schuld gewesen sei. Jedes Mal hatte er
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