Die vergessenen Welten 01 - Der gesprungene Kristall
immer er erkannt wurde. Er unterbrach seine Reise jedoch nie, um das ausbrechende Chaos unter ihm auszukosten.
Schnurstracks wie ein Pfeil und mit höchster Geschwindigkeit flog Errtu über Seen und Berge und weite, verlassene Landstriche. Sein Ziel war die nördlichste Gebirgskette in den Reichen, der Grat der Welt. Dort war das uralte Relikt, nach dem er Jahrhunderte gesucht hatte.
Kessell war sich des Nahens des Tanar-Ris schon lange bewußt, bevor sich seine versammelten Soldaten voller Entsetzen vor dem herabsausenden Schatten der Dunkelheit zerstreuten. Crenshinibon hatte die Bewegungen dieser mächtigen Kreatur von den unteren Ebenen, die ihn seit unzähligen Jahrhunderten verfolgte, vorausgesehen und den Zauberer in Kenntnis gesetzt.
Aber Kessell machte sich keine Sorgen, denn er war überzeugt, daß er in seinem Turm auch mit einem mächtigeren Gegner als Errtu fertig werden würde. Und er war dem Tanar-Ri gegenüber in einer Hinsicht tatsächlich im Vorteil. Er war der rechtmäßige Herr über das Relikt. Es war auf ihn abgestimmt, und wie so viele andere magische Artefakte, die so alt waren wie die Welt selbst, konnte Crenshinibon seinem Besitzer nicht mit nackter Gewalt entrissen werden. Errtu wollte das Relikt besitzen, und darum konnte er es nicht wagen, sich Kessell zu widersetzen und Crenshinibons Zorn zu entfachen.
Saurer Geifer troff ihm aus dem Maul, als er jenen Turm erblickte, der das Ebenbild des Kristalls war. »Wie viele Jahre!« brüllte er siegessicher. Errtu sah deutlich den Eingang, denn er war keine Kreatur der materiellen Ebene, und er trat sofort ein. Keiner von Kessells Goblins und nicht einmal ein Riese war zur Stelle, um ihn aufzuhalten.
Von seinen Trollen umgeben, erwartete der Zauberer Errtu im größten Raum von Cryshal-Tirith in der ersten Etage. Er wußte zwar, daß die Trolle gegen einen Tanar-Ri, der das Feuer beherrschte, wenig ausrichten konnten, aber er wollte sie dabei haben, um Stärke zu demonstrieren. Er wußte auch, daß er Errtu mit Leichtigkeit hätte wegschicken können, aber ihm war ein anderer Gedanke gekommen, der ihm wieder von dem Gesprungenen Kristall eingegeben worden war.
Der Tanar-Ri konnte ihm sehr nützlich sein.
Errtu blieb abrupt stehen, nachdem er durch den schmalen Eingang getreten und auf das Gefolge des Zauberers gestoßen war. Aufgrund des entlegenen Standortes des Turms war der Tanar-Ri davon ausgegangen, einen Ork oder vielleicht einen Riesen vorzufinden, der den Kristall hütete. Er hatte, vorgehabt, dessen schwerfälligen Besitzer einzuschüchtern und mit einem Trick dazu zu bringen, ihm das Relikt auszuhändigen. Doch der Anblick eines Menschen in Roben, der offenbar ein Magier war, brachte seine Pläne durcheinander.
»Ich grüße dich, mächtiger Tanar-Ri«, begann Kessell höflich und verneigte sich tief. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim.«
Errtu knurrte zornig, während er vortrat. Ihn überwältigten Gefühle des Hasses und des Neides gegen diesen selbstgefälligen Menschen, und er vergaß, welche Nachteile es haben würde, wenn er den Besitzer von Crenshinibon umbrachte.
Der Gesprungene Kristall erinnerte den Tanar-Ri an die Folgen.
Plötzlich flackerte ein grelles Licht an den Mauern auf und schloß Errtu mit der schmerzhaften Helligkeit Dutzender Wüstensonnen ein. Der Tanar-Ri blieb stehen und schirmte seine empfindlichen Augen ab. Kurz darauf verschwand das Licht wieder, aber Errtu wich nicht mehr von der Stelle.
Kessell lächelte gekünstelt. Das Relikt hatte ihn unterstützt. Vor Zuversicht strahlend, sprach er den Tanar-Ri erneut an. Diesmal klang seine Stimme streng. »Du bist gekommen, um mir dies wegzunehmen«, sagte er, griff in die Falten seiner Robe und holte den Kristall hervor. Errtu kniff die Augen zusammen. Sein Blick heftete sich fest auf den Gegenstand, nach dem er seit so langer Zeit strebte.
»Du kannst ihn nicht haben«, teilte ihm Kessell kategorisch mit und legte ihn wieder unter seine Robe zurück. »Er gehört rechtmäßig mir, denn ich habe ihn gefunden, und du hast keinen Anspruch auf ihn, den er akzeptieren würde!« Kessells törichter Stolz, dieser unheilvolle Makel seiner Persönlichkeit, der ihn schon oft in eine Tragödie getrieben hatte, wollte, daß er den Tanar-Ri weiter verspottete, der in dieser Situation hilflos war.
»Genug«, warnte ihn eine innere Stimme, die stumme Stimme, von der er zu vermuten begann, daß sie der empfindungsfähige Wille des Gesprungenen Kristalls
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