Die vergessenen Welten 08 - Nacht ohne Sterne
Waffe hin, aber Catti-brie nahm sie nicht sogleich.
Sie hatte diesen Dolch, Artemis Entreris Waffe, schon früher gesehen. Der Meuchelmörder hatte ihn ihr einst an den Hals gedrückt und ihr damit den Mut geraubt. Sie hatte sich damals hilfloser gefühlt als zu jeder anderen Zeit ihres Lebens. Wie ein kleines Mädchen. Catti-brie war sich nicht sicher, ob sie die Waffe von Regis nehmen konnte, da sie nicht wußte, ob sie es ertragen konnte, das Ding bei sich zu tragen.
»Entreri ist tot«, versicherte ihr Regis, der ihr Zögern nicht ganz verstand.
Catti-brie nickte abwesend, doch ihre Gedanken waren noch immer von Erinnerungen an die Zeit erfüllt, als sie Entreris Gefangene gewesen war. Sie erinnerte sich an den erdigen Geruch des Mannes und setzte diesen Geruch jetzt mit dem Aroma des puren Bösen gleich. Sie war so machtlos gewesen... wie in jenem Moment, als die Decke über Wulfgar zusammengebrochen war. War sie auch jetzt machtlos, fragte sie sich, da Drizzt sie brauchen mochte?
Catti-brie streckte ihr Kinn vor und nahm den Dolch. Sie umklammerte ihn fest und schob ihn dann in ihren Gürtel.
»Du darfst es auf keinen Fall Bruenor erzählen«, sagte sie.
»Er wird es wissen«, wandte Regis ein. »Seine Neugier darüber, daß Drizzt abgereist ist, hätte ich wohl ablenken können - Drizzt ist ständig unterwegs -, aber Bruenor wird schnell bemerken, daß du weg bist.«
Catti-brie konnte darauf nichts erwidern, aber das kümmerte sie auch nicht. Sie mußte Drizzt finden! Dies war ihre Aufgabe, ihre Art, wieder die Kontrolle über ihr Leben zu erlangen, das so schnell auf den Kopf gestellt worden war.
Sie eilte zum Bett, umarmte Regis heftig und küßte ihn fest auf die Wange. »Leb wohl, mein Freund!« rief sie und ließ ihn auf die Matratze fallen. »Leb wohl!«
Dann war sie weg, und Regis saß dort und stützte sein Kinn in seine dicklichen Hände. So viele Dinge hatten sich an diesem einen Tag verändert. Zuerst Drizzt und nun Catti-brie! Da Wulfgar nicht mehr war, blieben von den fünf Freunden somit nur noch Regis und Bruenor hier in Mithril-Halle zurück.
Bruenor! Regis rollte sich auf die Seite und stöhnte. Er begrub sein Gesicht in seinen Händen, als er an den mächtigen Zwergenkönig dachte. Wenn Bruenor jemals erfuhr, daß er, Regis, Catti-brie bei ihrem gefährlichen Unternehmen geholfen hatte, würde er den Halbling in Stücke reißen.
Regis hatte keinen blassen Schimmer, was er dem Zwergenkönig sagen sollte. Plötzlich bereute er seine Entscheidung, fühlte sich dumm, daß er auf seine Gefühle und sein Mitgefühl gehört hatte, statt auf seinen Verstand. Er verstand Catti-bries Bedürfnisse und spürte, daß es richtig für sie war, Drizzt zu folgen. Wenn es das war, nach dem es sie wirklich verlangte - schließlich war sie eine erwachsene Frau und zudem eine erfahrene Kriegerin. Aber Bruenor würde es nicht verstehen.
Und genausowenig würde es Drizzt verstehen, wurde dem Halbling klar, und er stöhnte erneut auf. Er hatte das Wort gebrochen, das er dem Drow gegeben hatte. Er hatte das Geheimnis gleich am allerersten Tag verraten! Und durch seinen Fehler stürmte Catti-brie nun direkt auf die Gefahr zu.
»Drizzt wird mich umbringen!« wimmerte er.
Catti-bries Kopf schaute um den Türrahmen, und ihr Lächeln war breiter, viel mehr mit Leben erfüllt, als Regis es seit langer Zeit gesehen hatte. Plötzlich schien sie wieder das temperamentvolle Mädchen zu sein, das er und die anderen in ihr Herz geschlossen hatten, die temperamentvolle junge Frau, die der Welt verlorengegangen war, als jene Höhlendecke auf Wulfgar hinabstürzte. Selbst die Röte in ihren Augen war verschwunden und von einem freudigen inneren Funkeln ersetzt worden. »Hoffe nur darauf, daß Drizzt zurückkommt, um dich umzubringen«, zirpte Catti-brie, warf ihm einen Kuß zu und eilte davon.
»Warte!« rief Regis halbherzig. Er war eigentlich froh darüber, daß sie nicht stehenblieb. Er hielt sich noch immer für unvernünftig, sogar für dumm, und er wußte noch immer, daß er seine Handlungen weder Bruenor noch Drizzt erklären konnte, aber jenes letzte Lächeln von Catti-brie, der Lebensfunke, der so offenkundig in sie zurückgekehrt war, hatte den Kampf, den er mit sich selbst ausfocht, endgültig entschieden.
Baenres Bluff
Der Söldner näherte sich leise dem westlichen Ende des Anwesens von Baenre, bewegte sich von Schatten zu Schatten, um an den silbrigen Spinnennetzzaun zu gelangen, der den Ort umgab.
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