Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
zu und sucht sich dann ein neues Jagdgebiet. Ein guter Straßenräuber ist den Stadtwachen und den Informanten, die ihn an die Soldaten verraten, immer einen Schritt voraus.« »Du klingst, als würdest du dieses Leben gut kennen.«
»Ich habe dies schon von Zeit zu Zeit getan«, gab Morik zu. »Nur weil wir uns in der Wildnis befinden, müssen wir nicht wie Wilde leben«, wiederholte der Ganove, was allmählich zu seinem Mantra wurde. Er hielt Wulfgar die Flasche hin.
Der Barbar musste seine ganze Willenskraft aufbringen, um dem Schnaps zu widerstehen. Seine Schulter schmerzte, und er war noch immer über die Banditen verärgert. Es war sehr verlockend, sich in eine trunkene Benommenheit zurückzuziehen.
Aber er widerstand, indem er sich von dem verblüfften Morik abwandte. Er ging zum anderen Ende der Lichtung hinüber, stieg einen Baum hinauf und machte es sich in einer Astgabelung bequem, um das umliegende Gelände abzusuchen.
Sein Blick wurde immer wieder von dem Gebirge im Norden angezogen. Dies war der Grat der Welt, die Barriere zwischen ihm und jener anderen Welt des Eiswindtals, dem Leben, das er einst geführt hatte und noch immer führen könnte. Er musste wieder an seine Freunde denken, vor allem an Catti-brie. Der Barbar schlief ein und träumte davon, sie in den Armen zu halten und sanft von ihr geküsst zu werden. Die schmerzliche Gegenwart fiel von ihm ab. Plötzlich zog sich Catti-brie zurück, und während Wulfgar sie betrachtete, wuchsen kleine elfenbeinerne Hörner aus ihrer Stirn, und große Fledermausflügel breiteten sich hinter ihrem Rücken aus. Ein Succubus, ein Dämon des Abgrunds, der ihn erneut in die Hölle von Errtus Quälereien gelotst hatte, indem er eine tröstliche Gestalt angenommen hatte, um ihn zu verführen.
Wulfgar riss die Augen auf, und sein Atem kam in keuchenden Stößen. Er versuchte, die schrecklichen Bilder abzuschütteln, doch sie gingen ihm nicht aus dem Kopf. Dieses Mal nicht. Sie waren so eindringlich und lebensecht gewesen, dass der Barbar sich ernsthaft fragte, ob diese letzten Monate seines Lebens nicht ein Trick von Errtu gewesen waren, um ihm erneut eine Hoffnung einzuflößen, die er anschließend wieder zerschmettern konnte. Er sah den Succubus vor sich, die grauenhafte Kreatur, die ihn verführt hatte …
»Nein!«, knurrte Wulfgar, denn es war eine zu hässliche Erinnerung, zu schrecklich, um sich ihr noch einmal zu stellen. Ich habe deine Saat gestohlen, flüsterte der Succubus in seinem Kopf, und er konnte es nicht leugnen. Sie hatten es ihm mehrmals in seinen Jahren der Tortur angetan, sie hatten seinen Samen genommen und daraus Alu-Dämonen gezeugt, Wulfgars Kinder. Dies war das erste Mal, dass Wulfgar sich seit seiner Rückkehr auf die Oberfläche der Welt bewusst daran erinnern konnte, das erste Mal, dass das Grauen, seine dämonischen Abkömmlinge zu sehen, sich durch die geistigen Barrieren gedrängt hatte, die er dagegen errichtet hatte.
Er sah sie jetzt vor sich, sah, wie Errtu ihm eines dieser Kinder brachte, ein schreiendes Baby, dessen Succubus-Mutter hinter dem Dämon stand. Er sah, wie Errtu das Kind hoch in die Luft hielt. Dann biss der große Dämon, direkt vor Wulfgars Augen und denen der schrecklich heulenden Mutter, dem Baby den Kopf ab. Ein Strom von Blut ergoss sich über Wulfgar, der keine Luft mehr bekam und nicht begreifen konnte, dass Errtu einen neuen – und den bislang schrecklichsten – Weg gefunden hatte, um ihn zu quälen.
Wulfgar fiel den Baum mehr hinunter, als dass er von ihm herabstieg, und landete hart auf der verletzten Schulter, so dass die Wunde sich wieder öffnete. Er ignorierte den Schmerz, lief über die Lichtung und fand dort Morik, der neben dem Wagen schlief. Der Barbar stürzte sich auf die Kisten und riss eine auf.
Seine Kinder! Die Abkömmlinge seiner gestohlenen Saat!
Der starke Alkohol brannte sich seinen Weg in seine Eingeweide, seine Hitze breitete sich in ihm aus, stumpfte seine Sinne ab und ließ die grausamen Bilder verschwimmen.
Kein Kind mehr
»Du musst der Liebe Zeit geben zu erblühen, mein Lord«, wisperte Temigast Lord Feringal zu. Er hatte den jungen Adligen auf die andere Seite des Gartens geführt, fort von Meralda, die auf das Meer hinausschaute. Der Verwalter hatte entdeckt, dass der verliebte junge Mann das Mädchen bedrängte, ihn bereits in der kommenden Woche zu heiraten. Die nervöse Meralda machte eine höfliche Ausflucht nach der anderen, doch alle wurden von dem
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