Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
noch zu überwältigt, um darüber auch nur nachzudenken. So viele Gedanken und Gefühle wirbelten in ihrem Kopf herum. Sie hatte die Verzweiflung auf Feringals Gesicht gesehen und geglaubt, er würde das Baby wirklich ins Meer werfen. Und doch hatte er es am Ende nicht tun können, hatte sogar verhindert, dass seine Schwester es tat. Sie liebte diesen Mann – natürlich liebte sie ihn. Und doch konnte sie ihre unerwarteten Gefühle für ihre Tochter nicht verleugnen, obwohl sie wusste, dass sie sie niemals bei sich behalten durfte.
»Ich bringe das Baby weit weg von hier«, sagte Wulfgar mit fester Stimme, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Du kannst gerne mitkommen, wenn du möchtest.«
Meralda lachte leise und ohne Freude, denn sie wusste, dass sie schon bald weinen würde. »Ich kann nicht«, erklärte sie. »Ich habe Pflichten meinem Ehemann und meiner Familie gegenüber. Meine Leute würden gebrandmarkt werden, wenn ich mit dir ginge.« »Pflichten? Ist das der einzige Grund, warum du bleiben willst?«, fragte Wulfgar, der offensichtlich spürte, dass mehr dahinter steckte. »Ich liebe ihn«, erwiderte Meralda, der nun Tränen über das schöne Gesicht liefen. »Ich weiß, was du von mir denken musst, aber glaub mir, das Baby wurde gezeugt, bevor ich jemals …«
Wulfgar hob die Hand. »Du schuldest mir keine Erklärung«, sagte er, »denn ich bin wahrlich nicht in der Position, über dich oder andere richten zu dürfen. Ich erkannte dein … Problem und bin deshalb zurückgekommen, um dir deine Hilfsbereitschaft zurückzuzahlen, das ist alles.« Er schaute zur Tür, hinter der Morik den Lord festhielt. »Er liebt dich«, sagte er. »Das haben seine Augen und die Tiefe seines Schmerzes deutlich gezeigt.« »Glaubst du, es ist richtig, dass ich bleibe?«
Wulfgar zuckte mit den Schultern und weigerte sich erneut, irgendein Urteil zu fällen.
»Ich kann ihn nicht verlassen«, sagte Meralda und hob die Hand, um dem Baby über die Wange zu streicheln, »aber ich kann sie auch nicht behalten. Feringal würde sie niemals akzeptieren«, gab sie zu, und ihre Stimme wurde dumpf und tonlos, denn sie erkannte, dass sie sich schon sehr bald von ihrer Tochter trennen musste. »Aber vielleicht würde er sie jetzt, da er nicht mehr glaubt, dass ich ihn betrogen habe, einer anderen Familie in Auckney geben.«
»Sie wäre für ihn eine ständige Erinnerung an seine Schmerzen und für dich an deine Lüge«, sagte Wulfgar sanft, ohne die Frau anzuklagen, sondern nur, um sie an die Wahrheit zu erinnern. »Und sie wäre in Reichweite seiner boshaften Schwester.«
Meralda senkte die Augen und akzeptierte die bittere Wahrheit. Das Baby war in Auckney nicht sicher.
»Wer wäre besser geeignet, sie aufzuziehen, als ich?«, sagte Wulfgar plötzlich mit fester Stimme. Er schaute zu dem kleinen Mädchen hinab, und ein warmes Lächeln trat auf sein Gesicht. »Würdest du das tun?« Wulfgar nickte. »Sehr gerne.«
»Du würdest sie beschützen?«, fragte Meralda. »Und ihr von ihrer Mutter erzählen?«
Wulfgar nickte. »Ich weiß nicht, wohin mein Weg mich jetzt führt«, erklärte er. »Vielleicht kehre ich eines Tages zurück, oder zumindest sie wird es tun, um einen kurzen Blick auf ihre Mutter zu erhaschen.«
Meralda wurde von Schluchzern geschüttelt. Wulfgar warf einen Blick zur Tür, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurden, dann beugte er sich zu ihr und küsste sie auf die Wange. »Ich glaube, so ist es am besten«, sagte er leise. »Stimmst du mir zu?«
Sie musterte den Mann eine Weile, diesen Mann, der alles riskiert hatte, um sie und ihr Kind zu retten, obwohl sie nichts getan hatten, um seinen Heldenmut zu verdienen; dann nickte sie.
Die Tränen rannen ihr weiter unaufhörlich über das Gesicht. Wulfgar konnte den Schmerz nachempfinden, den sie verspürte, die Größe ihre Opfers. Er beugte sich vor, so dass Meralda ein letztes Mal ihr kleines Mädchen streicheln und küssen konnte, aber als sie es ihm abnehmen wollte, wich er zurück. In Meraldas verstehendem Lächeln schwang Trauer mit.
»Lebwohl, mein Kleines«, sagte sie schluchzend und schaute dann weg. Wulfgar verbeugte sich ein letztes Mal vor Meralda, dann drehte er sich um und verließ mit dem Baby auf dem Arm den Raum.
Er fand Morik draußen im Korridor, wo er mit bellender Stimme jede Menge Nahrung und Kleider herbeorderte – und Gold, denn sie würden Gold brauchen, um das Kind angemessen in warmen und bequemen Herbergen
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