Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
Dorfbewohner umfallen würden, sollte der Wind jemals aufhören zu wehen, so sehr seien sie daran gewöhnt, sich beim Gehen nach vorne zu lehnen.
»Ich sollte häufiger aus der Burg herauskommen«, betonte Lord Feringal, während er mit seiner Schwester durch die Vorhalle ging und einen Wohnraum betrat, in dem der alte Verwalter Temigast saß und eine weitere seiner endlosen Seelandschaften malte.
»Ins Dorf, meinst du?«, fragte Priscilla mit offenem Sarkasmus. »Oder zu den umliegenden Torffeldern? Wo du auch hingehst, überall ist nichts als Schlamm, Stein und Schmutz.«
»Und in all dem Schmutz mag ein Edelstein desto heller erstrahlen«, erklärte der liebestrunkene Lord mit einem tiefen Seufzer.
Der Verwalter zog eine Augenbraue hoch, als er dieses Gespräch hörte, und blickte von seinem Gemälde auf. Temigast hatte den Großteil seiner Jugend in Tiefwasser verbracht und war vor etwa dreißig Jahren als Mann mittleren Alters nach Auckney gekommen. Als jemand, der im Vergleich zu den isolierten Bewohnern von Auckney (einschließlich der herrschenden Familie) sehr weltmännisch war, war es ihm nicht schwer gefallen, sich dem Feudalfürsten Tristan Auck unentbehrlich zu machen und zu dessen erstem Berater und später zum Verwalter aufzusteigen. Diese Welterfahrenheit kam Temigast jetzt zugute, denn er erkannte die Ursache für Feringals Seufzer, und ihm war klar, was dies für Folgen haben würde.
»Sie war nur ein Mädchen«, beschwerte sich Priscilla. »Ein Kind, und ein schmutziges zudem.« Sie schaute nach Unterstützung heischend zu Temigast, da sie sah, wie aufmerksam er ihrem Gespräch lauschte. »Feringal ist verschossen, fürchte ich«, erklärte sie. »Und zwar ausgerechnet in ein Bauernmädchen. Der Lord von Auckney giert nach einem schmutzigen, stinkenden Bauerntrampel.« »Also wirklich«, erwiderte Temigast mit vorgetäuschtem Grauen.
Seiner Ansicht nach, der Ansicht von jedem nach, der nicht aus Auckney stammte, war der »Lord von Auckney« selbst nicht viel mehr als ein Bauer. Es gab hier wirklich Geschichte: Die Burg stand bereits seit über sechshundert Jahren und war von den Dorgenasts errichtet worden, die während der ersten beiden Jahrhunderte geherrscht hatten. Dann war die Burg durch Heirat an die Aucks gefallen.
Aber über was herrschten sie tatsächlich? Auckney befand sich am äußersten Rand der Handelsrouten, südlich des westlichsten Ausläufers des Grats der Welt. Die meisten Handelskarawanen, die zwischen Zehn-Städte und Luskan unterwegs waren, mieden den Ort vollständig und nahmen stattdessen den direkteren Pass durch das Gebirge, der viele Meilen weiter östlich verlief. Selbst jene, die es nicht wagten, sich der Wildnis dieses unbewachten Passes zu stellen, überquerten die Bergkette östlich von Auckney entlang eines weiteren Passes, an dem sich die Stadt Hundelstein befand, ein Ort, der sechsmal so viel Bewohner hatte wie Auckney und über bessere Ausrüstungsgüter und Handwerker verfügte.
Obwohl Auckney ein Küstenort war, befand es sich zu weit nördlich für jeglichen Handel über die Schifffahrtswege. Gelegentlich glitt ein Schiff – meist ein Fischerboot, das von einer Windhose aus dem Süden erfasst worden war – in den kleinen Hafen von Auckney, gewöhnlich weil Reparaturen durchgeführt werden mussten. Einige dieser Seeleute blieben auf dem Lehen, doch die Bevölkerungszahl blieb ziemlich konstant. Sie war es bereits, seit es von dem intriganten Lord Dorgenast und seinen Gefolgsleuten gegründet worden war, die als Flüchtlinge einer fehlgeschlagenen Kabale unter den zweitrangigen Adelsfamilien von Tiefwasser hierher gekommen waren. Diese Zahl belief sich jetzt auf fast zweihundert und hatte damit einen historischen Höchststand erreicht (hauptsächlich durch den Zustrom von Gnomen aus Hundelstein), und zu anderen Zeiten waren es nur halb so viel Köpfe gewesen. Die meisten Dörfler waren miteinander verwandt – gewöhnlich sogar gleich mehrfach –, bis auf die Aucks natürlich, die ihre Bräute oder Ehemänner gewöhnlich von außerhalb holten.
»Kannst du keine geziemende Braut unter den wohlgeborenen Familien von Luskan finden?«, fragte Priscilla. »Oder einen vorteilhaften Handel mit einem wohlhabenden Kaufmann machen? Wir könnten eine reiche Mitgift schließlich gut gebrauchen.« »Braut?«, sagte Temigast mit leisem Lachen. »Sind wir da nicht etwas voreilig?«
»Nicht im Geringsten«, erklärte Lord Feringal in ruhigem Ton. »Ich liebe sie.
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