Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
Ich weiß, dass ich es tue.«
»Narr!«, jaulte Priscilla auf, aber Temigast klopfte ihr beruhigend auf die Schulter, während er weiter vor sich hinkicherte.
»Natürlich tust du das, mein Lord«, sagte der Verwalter, »aber bei der Heirat eines Edelmannes geht es selten um Liebe, fürchte ich. Es geht um Verbindungen und Reichtum«, erklärte Temigast sanft. Feringals Augen weiteten sich. »Ich liebe sie!«, beharrte der junge Lord.
»Dann nimm sie zur Mätresse«, schlug Temigast vor. »Ein Spielzeug. Einem Mann von deiner Stellung steht doch sicher zumindest ein solches Mädchen zu.«
Feringal, der einen solchen Kloß im Hals hatte, dass er kaum zu sprechen vermochte, knallte seinen Hacken auf den Steinboden und stürmte in seine Privatgemächer.
»Hast du ihn geküsst?«, fragte Tori, die jüngere der GanderlaySchwestern, und musste bei dem Gedanken kichern. Tori war erst elf und begann gerade, die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen herauszufinden. Es war eine Lehrzeit, die sich deutlich beschleunigt hatte, seit Meralda, ihre sechs Jahre ältere Schwester, sich in Jaka Sculi mit seinen feinen Zügen, den langen Wimpern und den nachdenklichen blauen Augen verguckt hatte.
»Nein, das habe ich ganz sicher nicht«, erwiderte Meralda und strich sich das lange schwarze Haar aus dem olivhäutigen Gesicht, einem schönen Gesicht, das unwissentlich das Herz des Lords von Auckney erobert hatte.
»Aber du wolltest es«, neckte Tori und brach in Gelächter aus, dem sich Meralda anschloss – und damit die Behauptung bestätigte. »Oh, das wollte ich«, sagte die ältere Schwester.
»Und du wolltest ihn berühren!«, neckte ihre kleine Schwester weiter. »Oh, ihn zu umarmen und zu küssen! Lieber, süßer Jaka!« Tori endete damit, schmatzende Kussgeräusche zu machen und die Arme um sich zu schlingen, so dass die Hände ihre Schultern umfassten, während sie sich dabei um sich selbst drehte, als würde sie von jemandem umarmt.
»Hör auf damit!«, sagte Meralda und schlug ihrer Schwester spielerisch auf den Rücken.
»Aber du hast ihn nicht einmal geküsst«, beschwerte sich Tori. »Warum nicht, wenn du es doch wolltest? Wollte er nicht dasselbe?« »Damit er es noch mehr will«, erklärte das ältere Mädchen. »Damit er die ganze Zeit über an mich denkt. Damit er von mir träumt.« »Aber wenn du es doch willst…«
»Ich will mehr als das«, erklärte Meralda, »und wenn ich ihn warten lassen kann, kann ich ihn dazu bringen zu bitten. Wenn ich ihn dazu bringe zu bitten, kann ich alles von ihm bekommen, was ich will, und noch mehr.«
»Was denn noch mehr?«, fragte die offenkundig verwirrte Tori. »Seine Frau zu werden«, gab Meralda ohne Scheu zu.
Tori fiel fast in Ohnmacht. Sie packte ihr Strohkissen und schlug es ihrer Schwester auf den Kopf. »Oh, das wirst du niemals!«, rief sie. Zu laut.
Der Vorhang zu ihrem Schlafzimmer wurde zurückgezogen, und ihr Vater Dohni Ganderlay steckte den Kopf herein.
»Ihr solltet schon lange schlafen«, schimpfte Dohni, ein gedrungener Mann, dem die Arbeit auf den Torffeldern starke Muskeln und eine sonnengebräunte Haut verliehen hatte.
Die Mädchen tauchten im Gleichklang blitzschnell unter die raue Decke, während sie die ganze Zeit über kicherten.
»Jetzt ist Schluss mit dem Herumgealber!«, schrie Dohni und stürzte sich wie ein großes Raubtier auf sie. Es entwickelte sich ein Ringkampf, der in einer festen Umarmung der beiden Mädchen und ihres geliebten Vaters endete.
»Jetzt schlaft aber endlich, ihr zwei«, sagte Dohni einen Moment später. »Eurer Mutter geht es nicht so gut, und euer Lachen hält sie wach.« Er küsste sie beide und verließ den Raum. Die Mädchen, die Respekt vor ihrem Vater hatten und sich um ihre Mutter sorgten, die sich wirklich noch schlechter fühlte als gewöhnlich, gaben Ruhe und hingen ihren privaten Gedanken nach.
Meraldas Geständnis war seltsam und erschreckend für Tori. Doch während es sie etwas ängstigte, dass ihre Schwester heiraten und das Elternhaus verlassen mochte, war sie zugleich aufgeregt über die Aussicht, ebenso wie Meralda zu einer jungen Frau heranzuwachsen. Meralda lag neben ihrer Schwester, und ihre Gedanken rasten vor lauter Vorfreude. Sie hatte schon früher einen Jungen geküsst, sogar mehrfach, aber es war immer aus Neugier geschehen oder als Mutprobe für ihre Freundinnen. Dies war das erste Mal, dass sie jemanden wirklich küssen wollte. Und wie sehr wollte sie Jaka Sculi küssen! Ihn
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