Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
stehlen lohnt«, sagte Grauser. »Ich stehle nicht«, behauptete der Knabe. »Natürlich nicht«, erwiderte Grauser mit einem wissenden Grinsen. »Du bist ein guter Junge, nicht wahr? Also, kennst du einen Mann namens Wulfgar? Ein großer Kerl mit gelbem Haar, der für Arumn Leute im ›Entermesser‹ verprügelt hat?« Der Junge nickte. »Und kennst du auch seinen Freund?«
»Morik der Finstere«, antwortete der Knabe. »Jeder kennt Morik.«
»Das genügt mir«, sagte Grauser. »Die beiden sind unten am Hafen oder irgendwo zwischen dort und hier, nehme ich an. Ich will, dass du sie findest und dies hier Morik gibst. Sag ihm und Wulfgar, dass ein Kapitän Deudermont sie vor dem ›Entermesser‹ treffen möchte. Es ginge um einen großen Hammer. Kannst du das tun?«
Der Junge verzog das Gesicht, als sei die Frage völlig lächerlich.
»Und wirst du es auch tun?«, fragte Grauser. Er griff in die Tasche und zog ein Silberstück hervor. Er wollte die Münze gerade dem Knaben geben, als er es sich anders überlegte. Seine Hand fuhr erneut in die Tasche und holte noch ein paar weitere der glitzernden Silberstücke hervor. »Deine kleinen Freunde sollen ganz Luskan absuchen«, verlangte er und gab dem Jungen die Münzen, der vor Staunen die Augen aufriss. »Es gibt noch mehr, wenn ihr Wulfgar und Morik zum ›Entermesser‹ bringt.«
Bevor Grauser noch ein weiteres Wort sagen konnte, schnappte sich der Junge die Münzen und verschwand in einer kleinen Gasse. Grauser lächelte, als er sich kurz darauf wieder zu Tee-a-nicknick gesellte. Er war überzeugt, dass der Junge und das ausgedehnte Netz von Straßenkindern, dessen er sich bediente, die Aufgabe rasch erledigen würden.
»Er nur warten«, sagte Tee-a-nicknick zu Deudermont, der an der Theke stand und an einem Glas Wein nippte.
»Ein geduldiger Mann«, sagte Grauser und grinste, wobei er grüngelbe Zähne enthüllte. »Wenn er wüsste, wie viel Zeit er noch zu leben hat, würde er weniger müßig sein, denke ich.« Er winkte Teea-nicknick, das ›Entermesser‹ zu verlassen. Sie fanden schnell ein niedriges Hausdach, das nahe genug war, um ihnen einen guten Blick auf die Vordertür der Taverne zu gewähren.
Tee-a-nicknick zog eine lange Röhre unter seinem Hemd hervor und holte dann aus einer Tasche eine Katzenklaue, an die ein Büschel Federn gebunden war. Der tätowierte, wilde Halb-Qullaner kniete sich hin, drehte die rechte Handfläche nach oben und nahm die Katzenklaue in die linke Hand. Vorsichtig drückte er auf eine geheime Blase an dem Armband an seinem rechten Handgelenk und verstärkte langsam, ganz langsam den Druck, bis ein Tropfen einer sirupartigen Flüssigkeit aus der Blase austrat. Das meiste davon fing er mit der Spitze der Katzenklaue auf und steckte den Pfeil dann in das hintere Ende seines Blasrohrs.
»Tee-a-nicknick auch geduldiger Mann«, sagte er mit einem verschlagenen Grinsen.
Warme Gefühle
»Oh, schau dich nur an!«, rief Biaste Ganderlay aus, als sie herbeikam, um Meralda beim Anziehen des neuen Kleides zu helfen, das Lord Feringal ihr für das gemeinsame Abendmahl an diesem Tag geschickt hatte. Erst dann, erst nachdem Meralda den hochgeschlossenen Arbeitskittel abgestreift hatte, den sie den ganzen Tag über getragen hatte, erblickte ihre Mutter das ganze Ausmaß ihrer Blessuren, die violetten Flecken, die sich über ihren Hals und ihre Schultern erstreckten und größer waren als die beiden Prellungen auf ihrem Gesicht. »So wie du aussiehst, kannst du nicht zu Lord Feringal gehen«, jammerte Biaste. »Was wird er von dir denken?«
»Dann werde ich nicht gehen«, antwortete eine nicht sehr begeisterte Meralda, doch das steigerte Biastes Erregung nur noch. Meraldas Antwort brachte tiefe Falten auf die Stirn des grauen, ausgezehrten Gesichts ihrer Mutter und erinnerte die junge Frau mit Nachdruck an Biastes Krankheit und an die einzige Möglichkeit, sie zu heilen.
Das Mädchen senkte die Augen und hielt den Blick zu Boden gerichtet, während Biaste zum Schrank ging und Kisten und Töpfe durchwühlte. Sie kramte Bienenwachs und Lavendel, Schwarzwurz und Öl hervor und eilte dann nach draußen, um lockeren Lehm zu sammeln, den sie der Mixtur hinzufügte. Kurz darauf war sie wieder in Meraldas Zimmer und zerstampfte die Kräuter und den Lehm in einem Mörser.
»Ich werde ihm sagen, es sei ein Unfall gewesen«, schlug Meralda vor, während Biaste begann, die abdeckende und wohltuende Paste aufzutragen. »Wenn er die Steintreppen
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