Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
sich in einer unendlichen Vielzahl von Formen und Farben, die Meraldas Augen unablässig hin und her wandern ließen. Der Boden war von Veilchen bedeckt, und Kornblumen lugten zwischen den größeren Pflanzen hervor, wie geheime Preise für den sorgfältigen Betrachter. Selbst in dem immerwährenden, trübseligen Nebel von Auckney, ja vielleicht zum Teil gerade deshalb, strahlte der Garten hell, sang förmlich von Geburt und Wiedergeburt, vom Frühling und vom Leben.
So verzaubert Meralda auch war, sie konnte doch nicht anders als sich zu wünschen, dass nicht Lord Feringal, sondern ihr Jaka sie an diesem dahinschwindenden Nachmittag begleitet hätte. Nur zu gerne würde sie ihn hier, inmitten der farbenfrohen Blumen, küssen, während die Bienen dazu summten.
»Priscilla kümmert sich hauptsächlich um diesen Ort«, bemerkte Lord Feringal, der höflich einen Schritt hinter Meralda ging, während sie an der Gartenmauer entlangschritt.
Diese Neuigkeit überraschte Meralda nicht wenig und ließ sie ihren ersten Eindruck der Herrin von Burg Auck noch einmal überdenken. Jemand, der so sorgfältig und liebevoll einen Garten pflegte und zu einem so schönen Ort gemacht hatte, musste auch gute Eigenschaften besitzen. »Und du kommst überhaupt nicht hier heraus?«, fragte die Frau und drehte sich zu dem jungen Lord um.
Feringal zuckte mit den Achseln und lächelte verschämt, als sei es ihm peinlich, zugeben zu müssen, dass er diesen Ort nur selten betrat.
»Findest du es hier denn nicht wunderschön?«, fragte Meralda.
Feringal eilte zu der Frau und ergriff ihre Hand. »Gewiss nicht so schön wie du«, sprudelte er hervor.
Meralda, die schon viel kühner war als bei ihrem ersten Besuch, zog ihre Hand zurück. »Der Garten«, beharrte sie. »Die Blumen – all ihre Formen und Düfte. Findest du das nicht schön?«
»Natürlich«, antwortete Lord Feringal sofort und gehorsam, wie Meralda erkannte.
»Schau es dir doch nur an!«, rief Meralda aus. »Starr nicht nur immer mich an. Sieh die Blumen, die wunderbare Fülle, die deine Schwester hier geschaffen hat. Siehst du, wie sie miteinander leben? Wie eine Blume für die andere Platz macht, wie sie sich zusammendrängen, ohne sich die Sonne zu nehmen?«
Lord Feringal löste seinen Blick von Meralda, um die unzähligen Blumen anzuschauen, und ein seltsamer Ausdruck von Erkenntnis trat auf sein Gesicht.
»Du siehst es«, stellte Meralda nach einer langen, langen Stille fest. Lord Feringal betrachtete noch immer die Farbenpracht, die ihn umgab.
Er wandte sich wieder zu Meralda um, und Staunen stand in seinen Augen. »Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht«, sagte er. »Und in all diesen Jahren – nein, Jahrzehnten – war dieser Garten hier, und doch habe ich ihn nie wirklich gesehen. Erst du hast mir seine Schönheit offenbart.« Er näherte sich Meralda und ergriff ihre Hand. Dann beugte er sich sanft vor und küsste sie, jedoch nicht drängend und gierig, wie er es bei ihrem ersten Treffen getan hatte. Er war zärtlich und dankbar. »Danke«, sagte er, während er sich wieder von ihr zurückzog.
Meralda brachte als Antwort ein schwaches Lächeln zu Stande. »Nun, du solltest deiner Schwester danken«, sagte sie. »Es hat sehr viel Arbeit gekostet, dies zu erschaffen.«
»Das werde ich«, erwiderte Lord Feringal nicht sehr überzeugend.
Meralda lächelte wissend und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Garten, während sie erneut daran dachte, wie großartig es wäre, mit Jaka an ihrer Seite hier entlangzuspazieren. Der verliebte Lord war wieder neben ihr, ganz dicht, und seine Hände berührten sie, so dass sie ihr Traumbild nicht länger aufrechterhalten konnte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Blumen. Wenn sie sich doch nur in ihrer Schönheit verlieren könnte, dachte sie, wenn sie sie einfach nur betrachten könnte, bis die Sonne unterging, und auch danach noch im milden Glanz des Mondes, dann könnte sie diese Nacht vielleicht überleben.
Man musste Lord Feringal zugute halten, dass er ihr viel Zeit ließ, einfach nur still dazustehen und sich umzuschauen. Die Sonne verschwand, der Mond ging auf, und obgleich er voll und rund am Himmel stand, verlor der Garten etwas von seiner Pracht und seinem Zauber, mit Ausnahme seiner Düfte, die sich süß mit der salzigen Luft vermengten.
»Willst du mich den ganzen Abend nicht anschauen?«, fragte Feringal und drehte sie sanft zu sich um. »Ich habe nur nachgedacht«, erwiderte Meralda.
Weitere Kostenlose Bücher