Die Vergessenen
hätte sie sehr wahrscheinlich das Glas durchbrochen und eine Verwüstung angerichtet. Die Konstrukteure hatten jedoch daran gedacht, und das Glas war nur in einer Richtung durchsichtig, während seine flache Halbkugel von außen nichts weiter als ein mattes Felsengrau zeigte.
Ripple-John stand auf, stellte den Laptop ab und ging zu der Ecke des kurzen Balkons, der zu seiner Wohnung gehörte. Hier stand ein hoher Blumentopf; sein Inhalt, ein von Wurzeln zusammengehaltener Pfropfen Erde, verschmutzte den Balkon, und verkümmerte vielfarbige Buntblätter wuchsen daraus hervor. John widmete sich erneut der Arbeit, die von Katarins Anruf unterbrochen worden war. Allein mit den Händen schöpfte er mehr restliche Erde aus dem Topf und verstaute sie in einer Tüte, ehe er den vor dem Geländer stehenden Kanister heranzog und Instruktionen in die seitliche Tastatur tippte. Er dachte nach und gab dann noch weitere Instruktionen ein.
Es war immer möglich, dass eine Signalblockade, wie sie in Greenport benutzt worden war, auch hier zum Einsatz kam und das Zündsignal blockierte, obwohl er seismische Sensoren benutzte, die zu einem Transponder unmittelbar hier in der Anlage führten. Entsprechend stellte er den Timer auf einen Zeitpunkt sieben Stunden später ein. Entweder zu diesem Zeitpunkt oder bei Sendung eines weiteren Signals – sobald er mit Bestimmtheit wusste, dass ein gewisser Geländewagen hier eingetroffen war – würde sich der Kanister öffnen und seinen Inhalt in die Atmosphäre abgeben. Das war weder ein Nervengas noch sonst ein tödliches Gas, obwohl eine biologische Substanz darin vorkam. Allerdings war selbst diese harmlos, wenn ein Mensch sie einatmete. Das Zeug würde sich in der Wegstation ausbreiten, und da die atembare Atmosphäre im Innern mehr durch einen Druckunterschied und weniger durch Luftdichtigkeit bewahrt wurde, würde es durch die vielen Löcher der Anlage ins Freie sickern.
Dann würde das Töten seinen Anfang nehmen.
Jem legte den Kopf schief und lauschte. Das Murmeln war jetzt näher und wirkte irgendwie deutlicher, als könnte er mit ein wenig Willensanstrengung eine Bedeutung heraushören. Es schienauch stärker unter seiner Kontrolle. Er konnte es ausblenden, sich auf das Motorengeräusch des Geländewagens konzentrieren und zulassen, dass das Murmeln schwächer wurde, sich irgendwo in den Hintergrund seines Verstandes zurückzog.
Als das große Panzertor vor dem Geländewagen aufschwang, widmete sich Jem wieder den neben ihm auf dem Sitz arrangierten Muschelschalen. Puzzle-Spiele mit religiösen Motiven hatten zu den wenigen Unterhaltungsformen gehört, die Kindern in der Theokratie zugestanden wurden, sodass er sich an Puzzles aus seiner Kindheit erinnerte. Während er jetzt diese Schalen betrachtete, empfand er das Gleiche wie damals, wenn er ein Bild zusammensetzte. Es war fast so, als wäre jede Schale ein rundes Segment eines größeren Bildes, dessen Motiv er erst noch erkennen musste. Bestimmte Linien und Formen schienen übereinzustimmen, so als sollten sie sich auf eine bestimmte Art und Weise zusammenfügen. Wenn er die Schalen verschob und versuchte, eine Linie mit einer anderen Linie auf einer anderen Schale zu verbinden, empfand er Frustration und Faszination zugleich. Er hatte dieses packende Puzzle-Gefühl, etwas zu vervollständigen, und zugleich eine solche Freude an dieser Aufgabe, dass er sie gar nicht zu Ende bringen wollte. Das lenkte ihn auch von etwas ab, was er als eine Wunde im Kopf empfand, die nicht heilen wollte.
»Haben sie dir keine Spielsachen gegeben, als du ein Kind warst?«, fragte Shree.
Ihre Äußerung schien einige seiner eigenen Gedanken widerzuspiegeln, aber in ihren Worten klangen nur Zorn und Verbitterung durch. Er wusste, dass sie ihm auf jede ihr mögliche Art wehgetan hätte, falls sie nur eine Gelegenheit erblickte, dies ohne nachteilige Folgen für sich zu tun. Nein, so stimmte das nicht. Er blickte zu ihrem Gesicht auf, das in diesem Augenblick völlig fremdartig auf ihn wirkte und doch zugleich offen und leicht zu deuten. Ein doppelter Bluff, wurde ihm klar. Ihr Reporterinnen-Ich gab ihrem Hass die Zügel frei, denn sie konnte ihre Provokationen als Versuch rechtfertigen, ihm nachrichtenwürdige Reaktionen zu entlocken. Sie konnte behaupten, einen plausiblen Hass vorzutäuschen, den sie nicht wirklich empfand. Sie hasste Jem jedoch wirklich, und er wusste in diesem Augenblick, dass sie ihn umzubringen plante.
»Leise sprach die
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