Die Vergessenen
Jahreseinkommen als Proktor abbezahlte, nur um zu erleben, wie seine Mutter starb, kaum dass das Konto ausgeglichen war.
Diese Vergangenheit war nun völlig von ihm abgekoppelt. Sie gehörte zu einer Person, die Jem nicht mehr wiedererkannte, einer Person mit schlichtem Glauben und wenigen Fragen, die die Welt und ihre Position darin so akzeptierte, wie sie sie vorfand. Der Jeremiah Tombs, wie er genau jetzt war, erkannte, dass die Welt komplizierter war als gedacht und dass die Fragen, die ihn dringlich bewegten, gerade erst mit denen ihren Anfang nahmen, wie Menschen sie sich täglich stellten. Shree hatte ihm dabei geholfen, ihn darauf aufmerksam zu machen; ihr Hass hatte ihn darauf aufmerksam gemacht.
Hinter den Gärten, die den Parkplatz umringten, ragte der Ring der Wohn- und sonstigen Häuser vier Stockwerke hoch auf; kurze Balkone verliefen ringförmig um jedes Stockwerk. Jem sah einige Leute dort oben und noch mehr Menschen in dem Restaurant, an dem sie auf ihrem Weg zu einer der vier Empfangstürenvorbeikamen. Dort nahm eine hochgewachsene Frau mit Narben im Gesicht und einem Hemd, das bis zum Nabel offen stand und eine Skolenarbe zeigte, Grants Angaben entgegen, reichte ihm die Zimmerkarten und gab ihm eine Wegbeschreibung. Wachsam und zweifelnd musterte die Frau Jem, seine Kleidung und die Schrift darauf einen Augenblick lang. Vielleicht hatte sie etwas über ihn auf Earthnet gesehen. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass in seiner Kleidung viel mehr steckte, als sie sah.
»Sie können neue Kleidung direkt von den Zimmern aus bestellen, wenn Sie möchten«, sagte sie, wobei ihr Blick weiter auf Jem ruhte. »Tatsächlich können Sie inzwischen hier viel mehr bestellen.« Sie schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln, und ihr Blick wanderte von Neuem abwärts. Verwirrt blickte er ebenfalls an sich herab und stellte fest, dass seine Sachen schlammbespritzt waren und die Hose an beiden Knien aufgerissen. Wann war das passiert? Er wandte sich ab und folgte Grant, als dieser weiterging, und Jem wurde sich darüber klar, dass die Frau nur eine Person gesehen hatte, keinen ehemaligen Proktor, und dass seine Kleidung auf sie vielleicht nur modisch seltsam gewirkt hatte, ähnlich dem offenen Top, das sie selbst trug. Als es die Treppe hinaufging, warf er einen Blick zurück und sah, dass sie ihn mit dem Hauch eines Lächelns ansah und in ihrer Miene etwas durchschimmerte, was ihm, soweit er sich erinnerte, noch keine Frau zuvor gewidmet hatte. Er musste sich jedoch abwenden, ärgerlich darüber, dass eine unvermittelte Dankbarkeit ihm den Hals zuschnürte und Tränen in die Augen trieb.
Durch Flure in hellen Farben und mit dickem Teppichboden ging es zu ihren Zimmern.
»Ich brauche wirklich frische Kleidung«, sagte Jem, als Grant ihn zu einer Tür wies und ihm die Schlüsselkarte aushändigte.
»Du findest darin eine Konsole«, erklärte Grant. »Dort kannst du bestellen, was du möchtest.«
»Steht ihm vielleicht noch Proktorengehalt zu?«, erkundigte sich Shree.
Grant brachte eine Brieftasche zum Vorschein, öffnete sie und holte einen schmalen Memorystick hervor. »Benutz den – dein Kreditrahmen müsste für alles reichen, was du brauchst.«
»Er genießt also jetzt Kredit in der Polis?«
Grant warf ihr einen Blick zu. »Eine Honorarpauschale – er arbeitet jetzt für die Polis.« Der Soldat wandte sich ab und ging zu seinem Zimmer.
»Es wird dir schwerfallen, hier ein Satagenial zu erwerben«, wandte sich Shree an Jem. »Obwohl eine Menge davon zum Verkauf angeboten werden, wo man Touristen antrifft. Scheinbar verkaufen sich Theokratie-Artefakte gut an Polisbürger, die immer gern Andenken an eine tote Vergangenheit an sich bringen.«
»Ich gebe meine Religion auf, sobald du deinen Hass aufgibst«, entgegnete Jem.
Sie schnaubte verächtlich und wandte sich ab.
Jem betrat sein Zimmer und starrte auf den Luxus, mit dem diese Hülse erdgebundenen Minimalismus’ der Theokratie vollgestopft war. Man brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um in Gedanken das weiche Bett, die Schränke, die kombinierte Hightechdusche und Toilettenausstattung sowie den Verkaufsautomaten aus dem kleinen Raum zu entfernen und durch den Anstaltsanstrich, die Schlafmatte, den Gebetsschemel, den Klo-Eimer und die Instrumente zur Selbstgeißelung in einer Ikonennische zu ersetzen, die inzwischen jedoch einen holografischen Projektor enthielt.
Er nickte vor sich hin, nicht sicher, was er hier bestätigt fand, und gestattete
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