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Die Vergessenen

Die Vergessenen

Titel: Die Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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anschließend.
    Es war vollbracht.
    Blau erhob sich aus dem Versteck, in dem sie abgewartet hatte, während sich dieser weiße Kapuzler justierte und die Kapuze zu ihr herumschwenkte. Er griff nicht an, und seine Selbstwahrnehmung hatte sich inzwischen stark genug ausgeprägt, um so etwas wie Dankbarkeit zu umfassen. Vielleicht neigte er den Kopf anerkennend vor ihr, ehe er die Kapuze zu den Knochen ihres Bruders hinabsenkte und seinen Tribut entrichtete.
    Sie verfolgte, wie er den Kopf wieder hob und diese Plastik zurückließ, und sie blickte ihm nach, während er sich entfernte. So zweckfrei wie alle lebenden empfindungsfähigen Wesen, sammelte sie die Überreste ihres Bruders ein und machte sich auf die Suche nach einem verborgenen Ort, um dort zu existieren. Um zu warten, auf ihre übrigen Brüder und Schwestern zu warten.
    Während er den Helm absetzte und sich Ranken wie Guineawürmer dehnten und von seinem Schädel lösten, starrte Jem zur Drachenfrau hinüber, und zwei Unterteilungen seines Verstandes glitten umeinander wie nicht mischbare Flüssigkeiten. Es schien, dass der Weber kontinuierlich Verbindungen zu seinem Menschenselbst herstellte, dass diese Verbindungen aber nicht aufrechterhalten werden konnten und sich wieder lösten. Das Bewusstsein blieb während des ganzen Vorgangs veränderlich. Manchmal wurde seine menschliche Vergangenheit zur schwächeren von zwei alternativen Historien; manchmal erwies sich der Weber als Transplantat am Menschenbewusstsein. Dabei wurde der menschliche Teil fortwährend verändert, und das gefiel Jem. Das Wesen, in das er sich zu verwandeln schien, fühlte sich besser an als der armselige, durch und durch indoktrinierte und unintelligente menschliche Proktor, und vielleicht beseitigte der Prozess letztlich die Trauer und das Schuldbewusstsein, an die sich zu klammern sein Menschenverstand entschlossen hatte.
    »Ich habe nur eine Frage«, sagte Chanter, der ebenfalls denHelm absetzte und voller Abscheu hineinblickte. »Warum hat Drache das getan? Warum hat Drache den Techniker geheilt?«
    »Sicher kannst du dir diese Frage doch selbst beantworten«, wandte Blau ein.
    »Um sich einzumischen, um mit gefährlichen Dingen zu spielen, um Brüche zu erzeugen und die Gestalt der Welt zu verändern.«
    »Die übliche Auffassung von Drache, ja, aber nicht der zentrale Grund.«
    »Warum dann? Warum?«
    »Weil es«, erklärte Blau, »ästhetisch ansprechend war.«
    Der Amphibienadaptierte schien kurz verwirrt, schloss dann die Augen und schüttelte den Kopf. Ihm schien schlecht zu sein.
    Jem hatte ein wenig Zeit gebraucht, um den Mann verstehen zu lernen, aber inzwischen verstand er ihn. Chanter hatte sich emotionell und intellektuell dem Glauben verschrieben, der Techniker würde sich durch Kunst ausdrücken. Ungeachtet aller Belege aus jüngerer Zeit, dass die Kunst dieser Kreatur das Produkt einer Störung war, hatte er sich an die alte Überzeugung geklammert. Inzwischen hatten Blaus Worte auch noch das letzte Bollwerk von Chanters Glauben untergraben, und wie sich das anfühlte, das verstand Jem vollkommen.
    Da Glaube nicht auf Logik beruhte, scheiterte er häufig auch dann nicht, wenn man ihn mit Logik konfrontierte – was Gläubige als Angriff empfanden und was zu einer sturen Abwehrhaltung führte. Man hole jedoch den Gläubigen aus seiner normalen Umgebung heraus und bringe ihn in eine Welt, wo er nicht umhin kann, über Fakten zu stolpern, die seinem Glauben entgegenstehen – auf dass er sich selbst der Logik aussetze und sie akzeptiere –, dann wurde manchmal der Punkt der Loslösung erreicht.
    »Nur eine Maschine«, sagte Chanter.
    Jem verstand das nicht ganz. »Eine Maschine jedoch, die viel komplexer als jedes menschliche Wesen ist.«
    Chanter blickte ihn an. »Trotzdem eine Maschine.«
    Jem schüttelte den Kopf und versuchte nach wie vor aus dieser seltsamen Idee schlau zu werden – einer Idee, die nicht durch Naturwissenschaft zu untermauern war –, künstlich erzeugte organische Maschinen wären von natürlich entwickelten zu unterscheiden. Dann wurde es ihm unvermittelt klar. Das war die Denkweise von Angehörigen einer jungen Zivilisation, erst in jüngerer Vergangenheit über primitive Anfänge hinausentwickelt und noch nicht wirklich im Frieden mit den eigenen Maschinen. Vor weniger als zehntausend Jahren hatten Menschen noch Steine aneinandergeschlagen und Ziegen geopfert, um sicherzustellen, dass die Sonne aufging. Ja, es gab eine Zeit, in der Atheter

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