Die verlorene Ehre der Katharina Blum
hatte. Sie schien allerdings – Fernsehen hatte sie nicht
– öfters ins Kino zu gehen und sich hin und wieder Schokolade, sogar Pralinen
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
zu kaufen.
Die vierte Rubrik enthielt Einnahmen und Ausgaben, die mit den
Extrabeschäftigungen der Blum zusammenhingen, betrafen Anschaffungs- und
Reinigungskosten für Berufskleidung, anteilige Unkosten für den Volkswagen.
Hier – bei den Benzinrechnungen – hakte Beizmenne mit einer Freundlichkeit,
die alle überraschte, ein und fragte sie, woher die relativ hohen Benzinkosten
kämen, die übrigens mit der auffallend hohen Ziffer zusammenhingen, die ihr
Kilometerzähler aufweise. Man habe festgestellt, daß die Entfernung zu Blorna
hin und zurück etwa , die Entfernung zu Hiepertz hin und zurück etwa , zu
Frau Woltersheim etwa km betrage, und wenn man im Durchschnitt, was
großzügig berechnet sei, eine Extrabeschäftigung wöchentlich veranschlage
und dafür, was ebenfalls großzügig sei, km veranschlage, was umgelegt auf
die Wochentage etwa km ausmache, so käme man auf etwa – km täglich.
Dabei sei zu bedenken, daß sie ja die Woltersheim nicht täglich besuche, aber
man wolle darüber hinwegsehen. Man käme also auf etwa km jährlich,
sie – Katharina Blum – habe aber, wie aus der schriftlichen Abmachung
mit dem Koch Klormer ersichtlich sei, den VW vor sechs Jahren bei einem
Kilometerstand von übernommen. Rechne man nun × hinzu, so
müsse ihr Kilometerstand jetzt etwa bei – liegen, in Wirklichkeit
aber betrage er fast km. Nun sei bekannt, daß sie zwar hin und wieder
ihre Mutter in Gemmelsbroich und später im Sanatorium in Kuir-Hochsackel
besucht habe, wohl auch manchmal ihren Bruder im Gefängnis – aber die
Entfernung Gemmelsbroich bzw. Kuir-Hochsackel betrage hin und zurück etwa
km und zu ihrem Bruder etwa km, und wenn man nun monatlich je einen
oder, großzügig, monatlich zwei Besuche rechne – und ihr Bruder sitze ja erst
eineinhalb Jahre, er habe vorher bei der Mutter in Gemmelsbroich gewohnt,
nun, so käme man – immer auf sechs Jahre berechnet – auf weitere –
km und es blieben da noch bis km ungeklärt bzw. ungedeckt. Wo
sie denn so oft hingefahren sei. Ob sie – er wolle nun wirklich nicht wieder mit
groben Andeutungen kommen, aber sie müsse seine Frage verstehen – dann
vielleicht jemanden oder mehrere irgendwo — und wo — getroffen habe?
Fasziniert, auch entsetzt hörte nicht nur Katharina Blum, auch alle anderen
Anwesenden dieser mit sanfter Stimme von Beizmenne vorgebrachten
Berechnung zu, und es scheint so, als habe die Blum, während Beizmenne ihr das
alles vorrechnete und vorhielt, nicht einmal Ärger empfunden, sondern lediglich
eine mit Entsetzen und Faszination gemischte Spannung, weil sie, während er
sprach, nicht etwa nach einer Erklärung für die km suchte, sondern sich
selbst darüber klarzuwerden versuchte, wo und wann sie warum wohin gefahren
war. Sie war schon, als sie sich zur Vernehmung hinsetzte, überraschend wenig
spröde, fast »weich« gewesen, sogar ängstlich hatte sie gewirkt, hatte Tee
angenommen und nicht einmal darauf bestanden, ihn selbst zu bezahlen. Und
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jetzt, als Beizmenne mit seinen Fragen und Berechnungen fertig war, herrschte
– nach der Aussage mehrerer, fast aller anwesenden Personen – Totenstille, als
ahne man, daß hier jemand auf Grund einer Feststellung, die – wären nicht die
Benzinrechnungen gewesen – leicht hätte übersehen werden können, tatsächlich
in ein intimes Geheimnis der Blum, deren Leben sich bisher so übersichtlich
dargestellt hatte, eingedrungen sei.
»Ja«, sagte Katharina Blum, und von hier an wurde ihre Aussage protokolliert
und liegt als solche vor, »das stimmt, das sind pro Tag – ich habe das jetzt rasch
im Kopf nachgerechnet, fast Kilometer. Ich habe nie darüber nachgedacht,
und auch die Unkosten nie bedacht, aber ich bin manchmal einfach losgefahren,
einfach los und drauflos, ohne Ziel, das heißt – irgendwie ergab sich ein Ziel, das
heißt, ich fuhr in eine Richtung, die sich einfach so ergab, nach Süden Richtung
Koblenz, oder nach Westen
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