Die verlorene Ehre der Katharina Blum
fast
»zahm«, als sie zu Protokoll gab: »Es trifft zu, daß ich beim Hausball der Frau
Woltersheim ausschließlich und innig mit Ludwig Götten getanzt habe, den ich
zum erstenmal in meinem Leben sah und dessen Nachnamen ich erst bei der
polizeilichen Vernehmung am Donnerstagmorgen erfuhr. Ich empfand große
Zärtlichkeit für ihn und er für mich. Gegen zehn Uhr habe ich die Wohnung
von Frau Woltersheim verlassen und bin mit Ludwig Götten in meine Wohnung
gefahren.
Über die Herkunft des Schmuckstückes kann ich, ich korrigiere mich: will ich
keine Auskunft geben. Da es nicht auf unrechtmäßige Weise in meinen Besitz
gelangt ist, fühle ich mich nicht verpflichtet, seine Herkunft zu erklären. Der
Absender des mir vorgehaltenen Briefumschlages ist mir unbekannt. Es muß
sich um eine der üblichen Werbesendungen handeln. Ich bin in gastronomischen
Fachkreisen inzwischen einigermaßen bekannt. Für die Tatsache, daß eine
Reklamesendung ohne Absender in einem einigermaßen kostspieligen und
aufwendig wattierten Briefumschlag versendet wird, habe ich keine Erklärung.
Ich möchte nur drauf hinweisen, daß gewisse gastronomische Firmen sich gern
den Anschein von Vornehmheit geben.«
Als sie dann gefragt wurde, warum sie ausgerechnet an diesem Tag, wo sie
doch offensichtlich und zugegebenermaßen so gern Auto fahre, an diesem Tag
mit der Straßenbahn zu Frau Woltersheim gefahren sei, sagte Katharina Blum,
sie habe nicht gewußt, ob sie viel oder wenig Alkohol trinken würde, und es sei
ihr sicherer erschienen, nicht mit ihrem Wagen zu fahren. Gefragt, ob sie viel
trinke oder gar gelegentlich betrunken sei, sagte sie, nein, sie trinke wenig, und
betrunken sei sie nie gewesen, nur einmal sei sie – und zwar in Gegenwart und
auf Veranlassung ihres Mannes bei einem geselligen Abend des Trommlerkorps
– betrunken gemacht worden, und zwar mit einem Aniszeug, das wie Limonade
schmeckte. Man habe ihr später gesagt, dieses ziemlich teuere Zeug sei ein
beliebtes Mittel, Leute betrunken zu machen. Als ihr vorgehalten wurde, diese
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Erklärung — sie habe gefürchtet, eventuell zuviel zu trinken – sei nicht stichhaltig,
da sie nie viel trinke, und ob ihr nicht einleuchte, daß es so aussehen müsse, als
sei sie mit Götten regelrecht verabredet gewesen, habe also gewußt, daß sie ihr
Auto nicht brauchen, sondern in seinem Auto heimfahren werde, schüttelte sie
den Kopf und sagte, es sei genauso, wie sie angegeben habe. Es sei ihr durchaus
danach zumute gewesen, sich einmal einen anzutrinken, aber sie habe es dann
doch nicht getan.
Ein weiterer Punkt mußte vor der Mittagspause noch geklärt werden: Warum
sie weder ein Spar- noch ein Scheckbuch habe. Ob es nicht doch noch irgendwo
ein Konto gebe. Nein, sie habe kein weiteres Konto als das bei der Sparkasse.
Jede, auch die kleinste ihr zur Verfügung stehende Summe benutze sie sofort, um
ihren hochverzinslichen Kredit abzuzahlen; die Kreditzinsen wären manchmal
fast doppelt so hoch wie die Sparzinsen, und auf einem Girokonto gäbe es fast
gar keine Zinsen. Außerdem sei ihr der Scheckverkehr zu teuer und umständlich.
Laufende Kosten, ihren Haushalt und das Auto, bezahle sie bar.
25.
Gewisse Stauungen, die man auch Spannungen nennen kann, sind ja
unvermeidlich, weil nicht alle Quellen mit einem Griff und auf einmal um-
und abgelenkt werden können, so daß das trockengelegte Gelände sofort
sichtbar wird. Unnötige Spannungen aber sollen vermieden werden, und es
soll hier erklärt werden, warum an diesem Freitagmorgen sowohl Beizmenne
wie Katharina so milde, fast weich oder gar zahm waren, Katharina sogar
ängstlich oder eingeschüchtert. Zwar hatte die ZEITUNG, die eine freundliche
Nachbarin unter Frau Woltersheims Haustür geschoben hatte, bei beiden Frauen
Wut, Ärger, Empörung, Scham und Angst bewirkt, doch hatte das sofortige
Telefongespräch mit Blorna Milderung geschaffen, und da kurz nachdem die
beiden entsetzten Frauen die ZEITUNG überflogen und Katharina mit Blorna
telefoniert hatte, schon Frau Pletzer erschienen war, die offen zugab, daß man
Katharinas Wohnung natürlich überwache und aus diesem Grund wisse, daß sie
hier zu finden sei, und nun müsse man leider – und leider auch Frau Woltersheim
– zur Vernehmung, da war der offenen und netten Art von Frau Pletzer wegen
der Schrecken über die ZEITUNG zunächst verdrängt und für
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