Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Richtung Aachen oder runter zum Niederrhein.
Nicht täglich. Ich kann nicht sagen wie oft und in welchen Abständen. Meistens,
wenn es regnete und wenn ich Feierabend hatte und allein war. Nein, ich
korrigiere meine Aussage: immer nur, wenn es regnete, bin ich losgefahren.
Ich weiß nicht genau warum. Sie müssen wissen, daß ich manchmal, wenn ich
nicht zu Hiepertz mußte und keine Extrabeschäftigung fällig war, schon um fünf
Uhr zu Hause war und nichts zu tun hatte. Ich wollte doch nicht immer zu Else,
besonders nicht, seitdem sie mit Konrad so befreundet ist, und auch allein ins
Kino gehen, ist für eine alleinstehende Frau nicht immer so risikolos. Manchmal
habe ich mich auch in eine Kirche gesetzt, nicht aus religiösen Gründen, sondern
weil man da Ruhe hat, aber auch in Kirchen werden Sie neuerdings angequatscht,
und nicht nur von Laien. Ich habe natürlich ein paar Freunde: Werner Klormer
zum Beispiel, von dem ich den Volkswagen gekauft habe, und seine Frau, und
auch andere Angestellte bei Kloft, aber es ist ziemlich schwierig und meistens
peinlich, wenn man allein kommt und nicht unbedingt, oder besser: nicht
bedingungslos jeden Anschluß wahrnimmt oder sucht. Und dann bin ich eben
einfach ins Auto gestiegen, habe mir das Radio angemacht und bin losgefahren,
immer über Landstraßen, immer im Regen, und am liebsten waren mir die
Landstraßen mit Bäumen – manchmal bin ich bis Holland oder Belgien durch,
habe da Kaffee oder auch Bier getrunken und bin wieder zurück. Ja. Jetzt, wo Sie
mich fragen, wird es mir erst klar. So – wenn Sie mich fragen, wie oft – ich würde
sagen: zweimal, dreimal im Monat – manchmal auch seltener, manchmal wohl
öfter und meistens stundenlang, bis ich um neun oder zehn, manchmal auch
erst gegen elf todmüde wieder nach Hause kam. Es war wohl auch Angst: ich
kenne so viele alleinstehende Frauen, die sich abends allein vor dem Fernseher
betrinken.«
Das milde Lächeln, mit dem Beizmenne diese Erklärung kommentarlos zur
Kenntnis nahm, ließ keinen Schluß auf seine Gedanken zu. Er nickte nur, und
wenn er sich wieder einmal die Hände rieb, dann wohl, weil die Auskunft von
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Katharina Blum eine seiner eorien bestätigt hatte. Es blieb eine Weile sehr still,
als wären die Anwesenden überrascht oder peinlich berührt; es schien, als habe
die Blum zum erstenmal etwas aus ihrer Intimsphäre preisgegeben. So wurden
denn auch die Erläuterungen zu den weiteren beschlagnahmten Gegenständen
rasch erledigt.
. Ein Fotoalbum enthielt nur Fotografien von Personen, die leicht zu
identifizieren waren. Den Vater von Katharina Blum, der kränklich und verbittert
wirkte und weitaus älter aussah, als er gewesen sein konnte. Ihre Mutter, von der
sich herausstellte, daß sie krebskrank war und im Sterben lag. Ihr Bruder. Sie
selbst, Katharina mit vier, mit sechs Jahren, als Erstkommunikantin mit zehn,
als Jungverheiratete mit zwanzig; ihr Mann, der Pfarrer von Gemmelsbroich,
Nachbarn, Verwandte, verschiedene Fotos von Else Woltersheim, dann ein
zunächst nicht identifizierbarer älterer Herr, der recht munter wirkte und
von dem sich herausstellte, daß es Dr. Fehnern, der straffällig gewordene
Wirtschaftsprüfer, war. Kein Foto irgendeiner Person, die in Zusammenhang mit
Beizmennes eorien gebracht werden konnte.
. Ein Reisepaß auf den Namen Katharina Brettloh geb. Blum. Im
Zusammenhang mit dem Paß wurden Fragen nach Reisen gestellt, und es erwies
sich, daß Katharina noch nie »richtig verreist« gewesen war und bis auf einige
Tage, an denen sie krank gewesen war, immer gearbeitet hatte. Sie hatte sich
ihr Urlaubsgeld bei Fehnern und Blornas zwar auszahlen lassen, aber entweder
weitergearbeitet oder Aushilfsstellen angenommen.
. Eine alte Pralinenschachtel. Inhalt: einige Briefe, kaum ein Dutzend von
ihrer Mutter, ihrem Bruder, ihrem Mann, Frau Woltersheim. Kein Brief enthielt
irgendeinen Hinweis im Zusammenhang mit dem gegen sie bestehenden
Verdacht. Außerdem enthielt die Pralinenschachtel noch ein paar lose Fotos von
ihrem Vater als Gefreiten der Deutschen Wehrmacht, ihrem Mann in der Uniform
des Trommlerkorps, ein paar abgerissene Kalenderblätter mit Sprichwörtern,
eine ziemlich umfangreiche, handgeschriebene Sammlung eigener Rezepte und
eine Broschüre »Über die Verwendung von Sherry in Soßen«.
. Einen Aktenordner mit Zeugnissen, Diplomen,
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