Die verlorene Koenigin
kommt näher!«
»Was ist das?«, jammerte sie. »Edric? Was ist das für ein Ort? Wie sind wir hierhergekommen?«
»Weißt du das denn nicht?«, rief er. »Das ist Ynis Maw!«
Bei diesem Namen überlief sie ein Schauder. Aber wieso? Sie hatte diesen fremdartigen Namen noch nie gehört.
»Ich muss dich jetzt loslassen«, rief Edric ihr zu. »Um das nächste Stück zu schaffen, brauche ich beide Hände.«
Er entzog ihr seine regennasse Hand, und sie sah zu, wie er gewandt die Felswand hinaufkletterte. Sie rappelte sich auf. Ihr war eiskalt und sie war durchnässt bis auf die Haut. Sie schlang die Arme wärmend um ihren Oberkörper und starrte in den grausamen Regen. Ihr Gesicht prickelte wie von tausend spitzen Nadelstichen.
Ein lautes, dröhnendes Schnauben ertönte hinter ihr. Als sie sich umsah, blickte sie geradewegs in den schwarzen Schlund unter sich. Sie hörte, wie riesige Krallen über das Gestein kratzten. Zwei rote Lichtpunkte kamen durch den Regen auf sie zu.
»Tania!«
Sie riss den Kopf herum. Edric beugte sich über den hohen Felsrand und hielt ihr seinen ausgestreckten Arm entgegen. Tania sprang hoch und bekam seine Hand zu fassen. Sie war kalt, viel kälter als zuvor, und der Griff war fest.
»Ich hab dich!« Die Stimme klang seltsam.
»Edric?«
Auf einmal war ein triumphierendes Lachen zu hören und im selben Augenblick erhellte ein Blitz das Gesicht der kauernden Gestalt über ihr.
Sie schrie auf.
Das war nicht Edric, sondern Gabriel Drake, der da mit wildem heimtückischem Blick auf sie herabsah.
Sie versuchte, ihre Hand freizubekommen, aber sein Griff lockerte sich nicht. Sie starrte auf ihre ineinander verschlungenen Hände, die in einem matten bernsteinfarbenen Licht glühten.
»Lass mich los!«, schrie sie.
»Niemals, Mylady«, brüllte er. »Ihr werdet nie von mir loskommen! Wusstet Ihr das nicht? Wir sind für alle Zeiten miteinander verbunden!«
Seine Finger gruben sich in ihre Hand, und mit erschreckender Kraft begann er sie die Felswand hochzuziehen. Im Gewitterschein sah sie den Wahnsinn in seinen silbrigen Augen. Sein Gelächter übertönte selbst den Donner. Regentropfen peitschten ihr ins himmelwärts gewandte Gesicht.
»Nein!«
Tania verlor den Boden unter den Füßen, wand sich in Gabriels Griff und trat um sich, während er sie unerbittlich immer weiter hinaufzog.
»Nein!«
Tania erwachte mit einem Ruck, der das ganze Bett erbeben ließ. Ihr Herz klopfte wild und sie musste sich zwingen, die Augen zu öffnen. Rasch blickte sie sich um. Die Vorhänge waren offen, der Raum taghell. Am Rand ihres Gesichtsfelds erblickte sie die bunten Geburtstagskarten.
Erleichtert seufzte sie auf und strich sich übers Gesicht. Sie war schweißgebadet, das Haar klebte ihr an Stirn und Wangen.
Sie lag komplett angezogen auf ihrem Bett in London. Es war nur ein Albtraum gewesen.
Ein paar Minuten blieb sie still und mit geschlossenen Augen liegen. Das Donnergrollen verhallte langsam, und auch das rote Feuer vor ihrem inneren Auge löste sich allmählich auf.
Sie nahm die Hände vom Gesicht und schlug die Augen auf. Tania atmete tief durch und setzte sich auf.
Die feuchten Kleider klebten ihr unangenehm am Körper. Sie schaute sich im Zimmer um, als wollte sie sich an den weltlichen Dingen festhalten, damit sie nicht wieder in den Traum zurückgezogen wurde. Dann griff sie nach ihrer Umhängetasche und zog ihren Ausweis heraus. Sie betrachtete das Passbild. Langes, lockiges rotes Haar umrahmte ihr herzförmiges Gesicht mit dem breiten Mund und den hohen, schräg stehenden Wangenknochen. Rauchgrüne Augen blickten sie an.
Anita Palmer.
Prinzessin Tania.
Zwei Mädchen mit ein- und demselben Antlitz, einem Herzen und nur einem Leben.
Aber für welches Leben sollte sie sich entscheiden? Und wo?
Ynis Maw.
Sie schauderte bei der Erinnerung an Gabriel Drakes Gesicht, sein grausiges Lächeln, seine weit aufgerissenen Augen, in denen sie das Weiße um die silbrige Iris herum sehen konnte. Tania verbarg ihre Hand unter der Bettdecke, als sie an seinen eisernen Griff dachte.
Ihr werdet nie von mir loskommen! Wusstet Ihr das nicht? Wir sind für alle Zeiten miteinander verbunden!
Unwillkürlich musste sie an die Vereinigung der Hände denken, die sie und Gabriel im Lichtsaal zelebriert hatten. Das Ritual war gegen ihren Willen vollzogen worde n – ihre Schwester Rathina hatte sie mit einer List zu Gabriel gelockt. Er hatte flüssigen Bernstein über ihrer beider Hände gegossen, und
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