Die verlorene Koenigin
sie hatte daraufhin sein wahres Wesen in seiner ganzen Tücke und Bösartigkeit erkannt.
Doch seine Pläne waren gescheitert. Plötzlich war Oberon aufgetaucht und hatte ihn überwältigt; Tania konnte sich noch gut an den Augenblick erinnern, in dem Gabriel verbannt worden war. An den schockierten Blick in seinen Augen, als der König sein Schicksal verkündet hatte.
Und dann, im Bruchteil einer Sekunde, war er verschwunden. Zurück blieb lediglich eine dünne, sich kräuselnde Rauchsäule, die sich wenig später in Luft auflöste.
Tania wusste, dass die Vereinigung der Hände lediglich das erste von vielen Hochzeitsritualen im Elfenreich bildete: Die Zeremonie dauerte drei volle Tage. Tania war also nicht wirklich mit Gabriel verheiratet, und doch war zwischen ihnen etwas geschehe n – ein Band war geschmiedet.
Zum ersten Mal fragte sich Tania, was mit Gabriel geschehen war. Er war verschwunde n – aber Oberon hatte ihn nicht getötet. Zur Strafe für seine Verbrechen wurde er verbannt. Aber wohin? Nach Ynis Maw?
Gab es diese Gegend wirklich? Ein schreckenerregendes Exil für Lord Gabriel? Rief Gabriel von dort aus nach ihr und erinnerte sie so an die unlösbare Verbindung zwischen ihnen beiden?
Tania erhob sich und trat schnell ans Fenster, wo sie die Stirn an die kühle Scheibe legte und in den Garten hinabblickte.
»Nein! Nein! Nein!«, flüsterte sie, das Glas beschlug von ihrem Atem. »Letztes Mal hat er mich nur gefunden, weil ich den Bernsteinanhänger getragen habe.« Sie biss die Zähne zusammen. »Aber das wird mir nicht noch mal passieren. Niemals!«
Angenommen, Ynis Maw existierte tatsächlic h – konnte ein so mächtiger Mann wie Gabriel Drake von dort fliehen?
»Das wird Oberon nicht zulassen«, sagte sie laut. »Er hat dafür gesorgt, dass Gabriel niemals zurückkehren kann.«
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie unangenehm sich die geliehenen Kleider auf ihrer Haut anfühlten. Sie ging zurück zum Bett und warf einen Blick auf den Wecker.
Halb vier. Auf dem Teppich lag das Handy. Sie setzte sich auf die Bettkante und hob es auf. Sie hatte eine SMS bekommen. Von ihrer besten Freundin Jade.
Du böses Mädchen! Wir wollen alle schmutzigen Details hören! Komm nach Schulschluss zur Pizzeria!
Tania lächelte. Typisch Jade! In der Schule hatte sich anscheinend schon herumgesprochen, dass sie gesund und munter war, und jetzt wollte Jade alle Einzelheiten hören.
Auf einmal überkam Tania unbändige Lust, ihre Schulfreundinnen zu treffen, abe r … »Sorry, Jade«, sagte sie laut. »Diesmal kann ich dir leider nicht die Wahrheit sagen.« Sie schrieb zurück: Ich komme.
»So, und jetzt muss ich dringend unter die Dusche«, beschloss sie. Als sie sich vom Bett erhob, fiel ihr der schwarze Bernstein wieder ein. Sie fischte ihn aus der Tasche und ging mit ihm zum Tisch. Dort setzte sie sich, nahm eine Nagelschere aus der Schublade, hielt den flachen Stein zwischen Finger und Daumen und begann, ein Loch hineinzubohren. Bald war eine kleine runde Kerbe entstanden. Tania arbeitete ein paar Minuten weiter, bis ein kleines Loch zu sehen war. Dann nahm sie ein Stück lilafarbenes Band, fädelte es durch das Loch und band sich den Stein ums Handgelenk.
Um sicherzugehen, dass das improvisierte Armband auch gut hielt, schüttelte sie ein paarmal die Hand. Dann zog sie ein Metalllineal aus einer Schublade und umschloss es fest mit der Hand. Sie bemerkte ein schwaches Kribbeln in den Fingern, so als hielte sie eine winzige Fliege in der Hand. Das war alles. Eisen stellte jetzt keine Gefahr mehr für sie dar.
Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Zuerst die Dusche, und dann war es schon an der Zeit, Jade und die anderen zu treffen.
Tania kehrte in ein Badetuch gewickelt und mit einem Handtuchturban um ihr nasses Haar ins Zimmer zurück. Abgesehen von der Tatsache, dass es Donnerstag war und sie eigentlich in der Schule hätte sein müssen, fühlte sich langsam alles wieder angenehm normal an. Die Poster an den Wänden, die gestapelten Schulbücher auf ihrem Schreibtisch, ihre über das gesamte Zimmer verstreuten Habseligkeiten. Ihre Pinnwand mit Zeitschriftenbildern, Postkarten und alten Kinotickets. Das Foto aus dem Automaten, auf dem sie und Jade Grimassen zogen. Der Schnappschuss von ihr und Edri c – damals natürlich noch Eva n – im Hyde Park. Sie standen auf einer Bank, spielten Romeo und Julia und gestikulierten übertrieben theatralisch, während Jade sie mit ihrer Digitalkamera aufnahm.
Dies
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