Die verlorene Kolonie
über die Geschichte des Zweirades anhören, stimmt’s? Du bist gespannt auf das Ergebnis.“
„Und wie!“, sagte ich und betrat das kleine Büro, dessen Papier-Felsen seit gestern noch weiter in die Höhe gewachsen zu sein schienen. „Was ist bei der Datierung herausgekommen?“
Mr. Dudley holte einen gefalteten Briefumschlag aus seiner Hosentasche und drückte ihn mir in die Hand. Andächtig schloss ich meine Finger darum. Aber nicht nur wegen der für mich wichtigen Zahlen darin, sondern auch, weil ich so etwas wie einen Papierumschlag schon lange nicht mehr gesehen hatte. Briefe aus Papier waren mit Inkrafttreten des Paperstop-Gesetzes abgeschafft worden. Die Post transportierte seitdem nur noch Pakete und elektronische Einschreiben. Wer noch eine alte Briefmarkensammlung auf Opas Dachboden fand, konnte sich glücklich schätzen, denn die kleinen Postwertzeichen waren heute ein Vermögen wert.
Aufgeregt wollte ich den Umschlag öffnen, doch Mr. Dudley hielt mich davon ab.
„Sieh bitte erst zu Hause nach. Die Messung geschah heimlich und wurde vom Computer nicht aufgezeichnet. Sie ist sozusagen am digitalen Gehirn vorbeigelaufen. Ich könnte vom Dekan mächtig Ärger dafür bekommen, deshalb die Geheimniskrämerei mit dem Umschlag.“
„Verstehe“, flüsterte ich. „Trotzdem vielen Dank nochmals.“
„Ist gut, Söhnchen. Schreib eine gute Arbeit, damit tust du deinem Dad und mir einen Gefallen.“ Mr. Dudley lachte und tätschelte meinen Unterarm. „Mach‘s gut und grüß Douglas von mir.“
Ich steckte den Briefumschlag in meinen Rucksack und verließ rasch das Gebäude. Mir blieben noch zwanzig Minuten, um rechtzeitig zum Treffen mit Ben und Addy zu kommen, also trat ich ordentlich in die Pedale.
Am spärlich beleuchteten Campus des Queens Colleges waren kaum noch Leute unterwegs. Ich konnte also mit dem Fahrrad über die Fußwege abkürzen, ohne aufpassen zu müssen, dass ich jemanden über den Haufen fuhr. Eilig schoss ich um die nächste Ecke und musste hart bremsen. Quietschend kam mein Gefährt zum Stehen. Genau vor Mike Catrell und seiner Gang.
Shit! An die Typen hatte ich in meiner Hast gar nicht mehr gedacht.
Ich setzte ein unschuldiges Gesicht auf. „‘Nabend, Jungs! Das war aber knapp! Tut mir leid, ich hab‘s eilig. Bye.“ Ich machte Anstalten weiterzufahren, doch Catrells Pranke legte sich auf den Lenker meines Rades und hinderte mich daran.
„Du bleibst schön hier, Spacko! Ich hab was mit dir zu bequatschen!“, knurrte der Fleischberg.
Etwas bequatschen , dachte ich spöttisch. So nannte Catrell das also. Ich sah mich hilfesuchend um und begann zu schwitzen. Weit und breit war niemand zu sehen. Shit, shit, shit! Die Suppe musste ich jetzt wohl alleine auslöffeln. Unwillkürlich duckte ich mich, als die Pranke meinen Kragen packte und mich vom Fahrrad zerrte, das scheppernd umfiel.
Bereits im nächsten Augenblick lag ich auf der Erde, umringt von hämisch johlenden Schatten. Sollte ich um Gnade winseln?
Entschlossen biss ich die Zähne aufeinander. Nein, jetzt noch nicht! Nicht, bevor ich wusste, was sie mit mir vorhatten. Ein wenig Rückgrat besaß selbst ich.
Instinktiv rollte ich mich zu einer Kugel zusammen. Das war weise gewesen, denn schon traf mich der erste Fußtritt in die Seite. Ich unterdrückte einen Schrei. Der Tritt hatte mich mehr überrascht als mir wehgetan
„Du verdammter Streber!“, zischte Catrell. „Dir und deiner Tussi werde ich es zeigen!“ Der nächste Tritt landete in meinem Hintern.
Der Schmerz zog sich bis in meine Eingeweide. Schützend warf ich meine Hände über den Kopf und machte mich auf die nächsten Schmerzen gefasst. Die kamen in Form eines Nierentrittes. Angestrengt stieß ich Luft aus. Nein, ich würde auch jetzt noch nicht klein beigeben. Noch hielt ich es aus.
„Der kleine Pisser schreit ja gar nicht“, bemerkte einer der Mistkerle höhnisch.
„Los, Mike, verpass ihm mal so richtig einen! Ich will ihn jammern hören“, rief ein anderer.
Und schon bohrte sich eine weitere Schuhspitze in mein Becken. Zum Glück war mein Rücken von meinem Rucksack geschützt. Da konnten sie reintreten, so viel sie wollten, aber wenn sie anfingen, meinen Kopf zu malträtieren, dann würde ich aufgeben. Ganz bestimmt. Doch vorher nicht! Ich kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an.
„Du kleiner Hosenscheißer!“, hörte ich Catrell über mir fauchen und spürte, wie er an meinem Rucksack riss. „Gib mir das verdammte Ding! Na
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