Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Mühe genommen hatte, die darin Verstorbenen, wie wir dies in unsrem Hospital taten, auf das Feld hinauszutragen – denn von Begraben konnte nicht wohl die Rede sein –, sondern sich einfach darauf beschränkte, dieselben kopfüber, kopfunter, denn so lagen sie da, zum Fenster hinauszuwerfen.«
Die Sehnsucht nach Wärme war unermeßlich, und die tägliche Suche nach einem Platz an einem wärmenden Feuer ein Überlebenskampf. Der badische Leutnant Carl Sachs notierte am 4. Dezember: »Den 4. ging vollends ein schneidender Wind: die Straße war glatt wie ein Spiegel; schon sah man hie und da während dem Gehen Leute zusammenstürzen und sterben, von Hunger und Kälte übermannt. Auch mir drohte dieser Tod, denn seit gestern hatte ich eine große Gelbrübe in den Hosen stecken, von der ich von Zeit zu Zeit ein Stück abbiß;diese ging zu Ende, und ich hatte nicht die mindeste Aussicht, etwas anderes zu bekommen, der Schmerz an meinen Zehen nahm immer zu und erschwerte mir den Marsch recht sehr. Auf einen Tag wie dieser kam eine Nacht, die mich vollends fürchten ließ, längstens morgen den früher Gefallenen zu folgen. Die Kälte hatte so zugenommen, daß keiner es wagte, vom Feuer weg nach Holz zu gehen. Auf dieser Art waren die Feuer dicht besetzt, und nur der fand Raum dabei, der ein Stück Holz brachte. Nach vielen vergebenen Versuchen mußte ich mich entschließen, statt zu ruhen, einem großen Feuer, welches vielleicht eine Stunde entfernt war, nachzugehen. Die Straße war beinahe leer, nur höchst Elende, welche die Verzweiflung noch auf den Beinen hielt, liefen jenem Feuer zu. Hier fielen eine Menge dieser Elenden.
Sowie einer zu Boden sank, wurde er von seinen eigenen Unglücksgefährten, um dessen Kleider zur Deckung und eigenen Rettung zu bekommen, alles Sträubens ungeachtet und ohne Barmherzigkeit ausgezogen. Wie mancher Greuel wurde hier in dunkler Nacht verübt und später am Tage auch offen getrieben! Nicht selten mußte beim Teilen der Kleider wieder einer der Streitenden sein Leben lassen. Zwischen 11 und 12 Uhr ungefähr langte ich bei jenem Feuer an, es waren einige brennende Häuser, um welche sich eine Menge Volk gesammelt hatte. Hier konnte man zwar Platz erhalten, hatte aber wegen des Rauchs, der die Augen beinahe ausbiß, wenig Erholung und vielmehr doppelte Qual, indem man zu weit von der Brandstelle entfernt bleiben mußte und auf der dem Feuer abgekehrten Seite beinahe erfror. – Ich befand mich in der Nähe von Franzosen, einer derselben ging, um den beim Feuer Schlafenden ihre Lebensmittel wegzustehlen; er kam auch glücklich mit einem Säckchen voll Mehl; welche Freude! Ich bot ein Stück Geld, wenn ich teil an der Suppe nehmen dürfte, die nun gemacht werden sollte. Schon wurde begonnen, die Suppe mit Pferdefett in einem kleinen Kasserol zu rösten, unter der Sorge, daß wir sie vielleicht mit dem Leben zahlenmüßten, indem eine Menge Elender sich um uns sammelte, die alle davon wollten; schon waren wir entschlossen, unser Leben an die Suppe zu setzen, als auf einmal unser vermeintes Mehl in blauer Farbe in Flammen aufschlug; es war Schwefel und kein Mehl! Ich hatte schon bei dem Gedanken an die Suppe meinen Zipfel Gelbrübe vollends verschlungen und war nun gänzlich von Lebensmitteln entblößt. Eine schöne Aussicht für den Morgen!«
Hauptmann von Brandt, der seit seiner bei Winkowo erlittenen Verletzung (eine Kugel hatte den Knöchel seines linken Fußes getroffen) zum Gehen Krücken benutzen mußte, bemerkt zum Auskleiden der Toten und Sterbenden: »Eine wunderbare Erscheinung war es, daß trotz der Länge des Weges und der anhaltenden Kälte viele Leute so wenig praktisches Geschick bewiesen, sich gegen letztere zu sichern, wenn sie gleich die Mittel dazu hatten. Jedes Bauernweib würde sie hierin übertroffen haben. Statt sich auf dem Marsche Nacken, Gesicht und Ohren einzuhüllen, hatten sie sich die Füße mit hundert Lappen und Tüchern umwunden, wodurch das Gehen natürlich erschwert ward; oft hatten sie Tücher sich um die Brust geschlagen, wo sie doch nur wenig nutzten, während sie Ohren und Nase vor dem Erfrieren geschützt haben würden. Ebenso unpraktisch benahmen die Leute sich auf den Biwaks. Kein Wunder also, daß sie massenweise erfroren, während andere Leute, die nicht anders gekleidet oder genährt waren wie sie, dennoch mit heiler Haut davonkamen.«
Der Sergeant Wasilenka unter Heinrich von Brandts Kameraden hatte es verstanden, noch Kartoffeln und
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