Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Verluste. (…) Jeder Tag machte uns zu Zeugen der traurigsten Szenen; die Straße war angefüllt von Soldaten, die keine menschliche Gestalt mehr hatten. Ein Teil derselben hatte das Gehör, ein anderer die Sprache verloren, und viele waren in einem Zustand von wahnwitzigem Stumpfsinn, der sie Leichen zu braten und zu verzehren antrieb.«
Bei den Kämpfen an der Beresina hatte die Grande Armée etwa 2000 Gefangene gemacht. Leutnant Anton Vossen vom Niederrhein, Offizier im französischen 111. Infanterie-Regiment, der mit seinen Soldaten die Gefangenen zu eskortieren hatte, schreibt: »Ehe wir Wilna erreicht hatten, löste sich die Eskorte mit den Gefangenen auf, letztere starben meist am Hungertod.« Andere Gefangene ließ man ziemlich bald wieder frei, weil man sie nicht ernähren konnte. Sie dankten es, indem sie sich sofort den Partisanen anschlossen und ihre früheren Bewacher angriffen. Oberst Marbot spricht von insgesamt 100 000 Gefangenen in diesem Feldzug. Nicht einer habe tatsächlich »den Boden seines Vaterlands« verlassen. »Da wir sie nicht von Hand zu Hand weitergeben konnten, entkamen bei den obwaltenden Verhältnissen alle. Sie gelangten zu ihrer Armee zurück und füllten bei dieser viele durch Verluste entstandene Lücken aus, während diese bei uns immer größer wurden.« Hier irrte Marbot. Bis in den Spätsommer hinein wurden Konvois russischer Gefangener nach Preußen gebracht; und erst später erlagen sie, wie bereits beschrieben, in großer Zahl dem Hunger und der Kälte, weil ihre Bewacher selbst nichts mehr zu essen fanden.
Auch der verfolgenden russischen Armee setzten Kälte und eine unzureichende Lebensmittelversorgung hart zu, wie Sir Robert Wilson berichtet: »Während dieser letzten Märsche, die durch eine von dem Feinde verwüstete Gegend gingen,litten die russischen Truppen durch Mangel an Lebensmitteln, Brennholz und Kleidung fast ebensosehr wie ihre Gegner. – Der Soldat hatte keine besondere Bedeckung für die nächtlichen Biwaks auf dem gefrorenen Schnee, und länger als eine halbe Stunde in einem Zug zu schlafen war wahrscheinlicher Tod. Offiziere und Mannschaften waren daher genötigt, sich gegenseitig im Schlafen abzulösen und die Widerwilligen und häufig Widerstand Leistenden mit Gewalt zu wecken. Brennholz war kaum zu erlangen, und wo man solches fand, konnte man sich dem Feuer nur mit großer Vorsicht nähern, denn es erzeugte in den erfrorenen Teilen den Brand; da aber selbst das Wasser in einer Entfernung von nur drei Fuß von den größten Biwakfeuern gefror, mußte man sich fast verbrennen, ehe man das Gefühl von Wärme empfand.«
Die Bilanz war auch hier erschütternd: »Über 90 000 kamen um, wie die späteren Listen beweisen; und von 10 000 Rekruten, die später als Verstärkung nach Wilna abgingen, erreichten nur 1500 diese Stadt, und der größte Teil derselben kam krank oder verwundet in die Hospitäler.«
19. WILNA UND KOWNO
Wilna – 250 Kilometer vom Beresina-Übergang entfernt – erschien den Überlebenden von Napoleons Armee gleichsam als gelobtes Land. Die Hauptstadt des damals russischen Litauen war der Grande Armée unversehrt in die Hände gefallen, und ihre etwa 30 000 Einwohner waren auch nicht geflohen. Die Kaufleute der großen jüdischen Gemeinde der Stadt, die etwa ein Viertel der Einwohner ausmachte, betrachteten die Invasoren vor allem unter dem Aspekt einer betuchten Kundschaft, mit der man profitable Geschäfte machen konnte. Die Juden wußten dank ihrer hervorragenden Verbindungen alles zu beschaffen, was irgend gewünscht wurde,und mit jedem Monat, den der Krieg dauerte, wuchs der Umsatz bei exorbitanten Handelsspannen. Die Hoffnung der Soldaten richtete sich jedoch vor allem erst einmal auf die riesigen Magazine, die Napoleon gleich nach der Einnahme der Stadt hatte anlegen lassen. Hier waren zur Versorgung von 100 000 Soldaten »auf 40 Tage Mehl und Brot, und auf 36 Tage Fleisch« (Ségur) eingelagert, dazu große Bestände an Wein und Branntwein sowie Kleidung aller Art, Waffen und Munition.
Woran es aber empfindlich mangelte, war die Organisation. Die am 8. und 9. Dezember vor Wilna Eintreffenden drängten sich alle durch ein einziges Stadttor, weil niemand daran gedacht hatte, Hinweise auf die anderen Zugänge zu geben, geschweige für Quartiere zu sorgen. Napoleons Gouverneur, Hugues Maret, zugleich sein Außenminister, und dessen Adlatus, der holländische General Dirk Graf Hogendorp, waren über die sich in
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