Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
süßen Mets war angeschafft worden, für unsere durstigen Kehlen ein wahrer Nektar. Nur Branntwein und Brot war nirgends vorzufinden gewesen.«
Auch Leutnant Wilhelm von Koenig hatte in jenen schrecklichen Tagen von Anarchie, Chaos und Unmenschlichkeit etwas Glück: »Auf einem dieser Märsche erblickten wir gegen Mittag ein ansehnliches Schloß, dem wir in der Hoffnung, unseren Hunger stillen und unseren Pferden dasselbe Glück verschaffen zu können, zusteuerten. Ohne lange um Erlaubnis zu fragen, brachten wir unsere Pferde in schönen Stallungen unter und begaben uns in das Schloß, das bewohnt war. In einem großen Zimmer, in das wir eingetreten waren, war zwar ein großer Tisch, aus dem wir schlossen, daß dieses Zimmer das Eßzimmer sei, es stund aber nichts darauf und ließ sich aber auch niemand sehen. Am Ende dieses Zimmers dicht bei einer in ein Nebenzimmer führenden Türe stund ein Klavier. Nachdem wir aufgetaut waren und lange vergebens gewartet hatten, ob jemand von den Hausbewohnern erscheinen werde, setzte ich mich an dieses Klavier und forderte den Leutnant Schliz auf, uns etwas zu pfeifen, ich wollte ihn dazu accompagnieren. Schliz pfiff nämlich so ausgezeichnet schön, daß man das vortrefflichste Flageolett zu hören glaubte und König Friedrich ihn zu sich beschied, um ihn zu hören. So hatten wir beide einige Zeit musiziert und unsere Kameraden den Hunger vergessen lassen, als ich bemerkte, daß sich die Türe des Nebenzimmers ganz sachte etwas öffnete. Schliz, der dieser den Rücken kehrte, konnte das nicht wahrnehmen; ich batihn, mich zu einem Liede zu accompagnieren, und während ich sang, ging die Türe immer weiter auf, der Hausherr trat heraus und erteilte unserer Musik mit heiterster Miene große Lobsprüche. Ihm folgten seine Damen, und nun war es klar, warum sich bis daher hatte niemand sehen lassen. Unsere unerwartete und nicht erbetene Einquartierung ließ sie auf rohes Soldatenvolk schließen, und sie hörten nun, daß wir dennoch zivilisierte Menschen seien. Nun änderte sich plötzlich die Szene. Der Baron, Graf oder Fürst bot uns Erfrischungen an – daß wir keine gefordert hatten, legte er bei unserer Taxierung vielleicht doch auch in die Waagschale –, die wir mehr als gerne annahmen, befahl seine Dienerschaft herbei, die uns nach gedecktem Tische reichlich und vortrefflich servierte. Jedenfalls schmeichelte es uns allen über die Maßen, was der geneigte Leser mir gewiß glaubt. Es war dieses das erste und letzte Mal, daß mir mein musikalisches Talent etwas zum Essen eintrug – ich hätte eigentlich sagen sollen: mir und meinen Kameraden den Hunger stillte. Unseren Dank für dieses Mahl bekundeten Schliz und ich noch insbesondere dadurch, daß wir den Bitten der Damen bereitwilligst entgegenkamen und vor dem Abmarsch noch musizierten. Daß wir aufs freundlichste entlassen wurden, versteht sich von selbst.«
In jenen Tagen der äußersten Not brachen stärker denn je die Konflikte zwischen den Nationalitäten dieser Vielvölkerarmee auf, wie Leutnant Karl von Kurz beobachtet: »Auch denke man sich die Verwirrung, die bei einem Haufen zahlloser Menschen, fast aus allen Ländern Europas und von den entgegengesetzten Charakteren, herrschen mußte. Es war ein Quodlibet von Sprachen, so daß man sich in die Zeiten des Turmbaus zu Babel versetzt glaubte, so viel verschiedene und unverständliche Sprachen hörte man. – Dies war ein Beweggrund zu verschiedenen Landsmannvereinen, die sich gegen die, welche ihnen fremd waren, durch nichts anderes ankündeten als durch Haß und Verachtung. Sie überhäuften sich, besonders aus Anlaß der Teilung von Biwakfeuern oder nächtlichenLagerstätten, mit Schmähungen und gegenseitigen tätlichen Mißhandlungen, die oft in Mord übergingen, der hier ungeahndet verübt werden durfte. Unter allen diesen nationalen Vereinen übertraf aber keiner an Brutalität die Franzmänner, die an Herrschsucht gewinnt, ihre früheren Ansprüche auch jetzt nicht aufgeben wollten. Sie glaubten sich berechtigt, zum Nachteil anderer alles an sich zu reißen, was ihnen gefiel. Der entschiedenste Haß aller andern Nationen sprach sich gegen sie aus, und so entstanden stündlich Schlägereien, die oft mit Wunden oder Tod endeten.«
Auf der französischen Seite galten die nichtfranzösischen Zwangsalliierten als eine der Ursachen des allgemeinen Unglücks, wie es Oberst Marcellin de Marbot bündig formuliert: »Die eigentlich französischen Truppen reichten
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