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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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für die Streitkräfte, welche beide Feldzüge (in Spanien und in Rußland) erforderten, nicht aus, der Kaiser meinte aber, diesen Übelstand durch Einfügung von Truppen seiner Alliierten ausgleichen zu können. Dies jedoch hieß edlen Wein durch Beimengung trüben Wassers verderben! – In der Tat litten die spezifisch französischen Truppen durch diese Maßnahme an Geist und Haltung Schaden. Von den sehr mittelmäßig kriegsgeschulten, widerwillig ihre Heimat verlassenden fremden Nationalitäten konnten sie nichts Gutes lernen. Diese fremden Elemente waren es denn auch, welche durch ihr Verhalten auf dem Rückzug die Lockerung aller Ordnung und Disziplin in die Große Armee hineinbrachten und deren Auflösung beschleunigten.«
    Die Betroffenen sahen das natürlich anders, und der Haß auf die Franzosen nahm zuweilen groteske Formen an. »Hatte eine Partie ein noch dastehendes Haus oder eine Hütte im Besitz zum Übernachten«, schreibt Regimentsarzt Groß, »so machte gewöhnlich die andere ein Feuer an einer Stelle des Gebäudes, wo sie mehr vor der Kälte und dem schneidenden Wind geschützt war. Meistens entstund dadurch eine Übertragung des Feuers auf das ganze hölzerne und strohbedeckte Gebäude. Alsdann wärmten sich beide Partien gemeinschaftlich amgroßen Feuer. Wenn man das Glück hatte, unter ein Dach zu kommen, wie es im genannten Dorfe der Fall gewesen, litt man daselbst keinen Franzosen. Man suchte und fahndete nach ihnen, um sie hinauszuweisen. So kam es unter anderem in dieser Herberge vor, daß mehrere Offiziere auf einem großen massenhaften tönernen Ofen (auf welchem sich viele aufhalten konnten, wie auch solche Öfen als Nachtlagerstätte für mehrere in der Regel gebraucht worden) sich aufhielten. Man vermutete einen Franzosen unter denselben und machte viele Versuche, ihn herunterzubringen. Einige stupften mit den Degen in der ledernen Scheide nach ihm, vorauf er laute unverständliche Klagetöne von sich gegeben. Man wollte immer wissen, wer er sei. (Es kam nicht selten vor, daß man Männer, mit welchen man früher oft Umgang hatte, wegen sehr verändertem Aussehen in Kleidung und Gesichtsbildung und gegen früher sehr abweichendem Benehmen nicht mehr erkannte.) Da derselbe durchaus nicht gesprochen, glaubte man immer mehr, er sei ein Franzose, und machte ernstlich Anstalt, ihn herabzuziehen. Endlich kam es heraus, daß er einer der unsrigen, ein Leutnant namens Dietrich, sei, dessen Geisteskräfte auch schon ziemlich heruntergekommen. Durch letzteres ließ sich auch sein ungeschicktes Benehmen erklären.«
    Jeder weiß von solchen Konflikten zu erzählen. Nur nicht der stets gut aufgelegte Karl von Suckow, der mit französischen berittenen Jägern, denen die Pferde längst abhanden gekommen waren, und polnischen Lanciers an einem Biwakfeuer saß: »Die Burschen hatten sich nach den Umständen recht gemütlich niedergelassen. In dem Winkel, welchen zwei aneinander, und zwar ausnahmsweise von Backsteinen aufgeführte, Gebäude bildeten, saßen sie warm und sicher. Daß solche der um jene Zeit, wie erwähnt, so allbeliebten Feuersbrunst entgangen waren, dankten sie wohl ihrem Material. Beide schienen mit noch einigen weiteren in der Nähe vor Ausbruch des Krieges zu irgendeiner Fabrik benutzt worden zu sein.
    Ich ließ mich in eine Konversation mit den anwesenden Franzosen ein. Meine jungen chasseurs à cheval waren trotz meines abgerissenen Kostüms, welches kaum noch dessen Träger als Offizier erkennen ließ, sehr artig und zuvorkommend gegen mich; sicherlich gehörten sie den höheren Ständen an. Im Laufe des Gespräches fragte mich einer derselben, mein Nachbar am Feuer, ob ich auch schon rückwärts geschaut und demnach bemerkt habe, was sich in dem Winkel, welchen die beiden Gebäude bildeten, befinde. Neugierig gemacht, wendete ich den Kopf dorthin, und was erblickte ich? Vom Erdboden bis zu einem Fenster des ersten Stockes lag eine pyramidenförmig aufgehäufte Masse, aber so beschneit, daß man deren Bestandteile bei dem Flackern der Biwakflamme nicht sogleich erkennen konnte. Ich zog einen Franzosen deshalb zu Rat, der darauf lakonisch erwiderte: ›Ce sont des cadavres!‹ (Das sind Leichen!) Und wirklich war es so, wie mir dies die nähere Beaugenscheinigung bestätigte. – Eine Pyramide, gebildet durch wenigstens hundert aneinandergefrorene, dicht überschneite Leichname!
    Wahrscheinlich war hier während des Sommers ein Hospital etabliert gewesen, wo man sich nicht die

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