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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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der Schuhe ermangelnd, hatten ihre Füße mit Lumpen, Fetzen von Decken, Fellen oder Hutfilz umwickelt, mit Strohflechten oder Stricken zusammengehalten. Um sich gegen die enorme Kälte zu schützen, hatten manche ihre ausgemergelten, von Ungeziefer angefressenen Leiber in Säcke oder Strohmatten, Pelze oder Felle jeglicher Art, Weiberröcke, Schals von allen Farben, Lappen von Tuch, Pferdedecken oder frischgeschlachtete Tierhäute gehüllt. Unter Pelzmützen und Kopfputz von der seltsamsten Beschaffenheit grinsten hohläugige, bleiche, hagere, mit Schmutz bedeckte und von Rauch geschwärzte Gesichter hervor, und glücklich pries sich, wer irgendein wenngleich nicht von Ungeziefer freies Stück Pelz gefunden, um in solches die durch Kälte mit Frostbeulen übersäten, teils in Brand schon übergegangenen Hände zu wickeln. Mit untergeschlagenen Armen, gesenkten Hauptes und tief verhülltem Gesicht gingen Offiziere und Soldaten, allesamt gleich kostümiert, in dumpfer Betäubung ihr entsetzliches Schicksal beseufzend, nebeneinander einher, ohne sich, da die Not schon längst allen Rang beseitigt, einer um den anderen zu bekümmern. Selbst die sehr geschonten Kaisergarden unterschieden sich von den übrigen Truppenteilen in nichts mehr. Auch sie waren zusammengeschmolzen, abgerissen an Kleidung, aufgerieben durch Hunger, ohne Waffen und Disziplin. Die Armee glich einer ausgedehnten Bande zerlumpter, Entsetzen und Abscheu erregender Landflüchtiger.
    Alle Gegenwehr hatte aufgehört, der bloße Ruf ›Kosaken‹ brachte ganze Kolonnen in kurzen Trab. Die Brandstätten von Häusern und Scheunen boten den Anblick von menschlichen Leichen, die, in der Meinung, sich zu wärmen, dem wuchernden Feuer nicht mehr aus Kraftlosigkeit hatten entrinnen können. Durch Rauch und Schmutz zum Mohr geworden, schlichen viele auf dergleichen Brandstätten gespensterhaft unter ihren vollendeten Kameraden einher, bis auch sie umsanken und ihren Geist aufgaben. Mit bloßen, in Brand übergegangenenFüßen hinkten manche ihres Weges bewußtlos fort, während andere ihre Sprache und das Gesicht verloren hatten. Viele waren durch Hunger und Kälte in Geistesverwirrtheit verfallen, in der sie Leichname an Feuer rösteten, verzehrten und sich selber Arme und Hände benagten. Unvermögend, das benötigte Holz herbeizuschaffen, ließen sich ihrer nicht selten auf tote Körper nieder, die an irgendeinem vorgefundenen, noch schwach glimmenden Feuer lagen, und hauchten, sowie dieses erlosch, gleichfalls ihr Leben aus. Im Zustande völliger Besinnungslosigkeit sah man viele in das Feuer kriechen und wimmernd und krächzend sich verbrennen; wohin andere dann in der Absicht, sich zu erwärmen, ihnen nachkrochen und einem gleichen Verderben anheimfielen.«
    Gießes Schilderung wird bis in die Einzelheiten von allen anderen Augenzeugen ausnahmslos bestätigt. Gab es tatsächlich Kannibalismus? Ségur hat dies in seiner schon früh klassisch gewordenen Darstellung des Feldzugs bestätigt, General Gourgeaud, wie Ségur, einer der Ordonnanzoffiziere Napoleons, widerspricht ihm, auch Oberst Marbot will nichts davon wissen. Ihnen gegenüber aber stehen einige absolut verläßliche Augenzeugen, deren Aussagen in den beiden folgenden Kapiteln noch zitiert werden. Und doch gab es in diesem Elend auch wahre Glücksfälle. So gehörte der westphälische Leutnant Paul Köhler zu den wenigen, die in diesen Tagen reiche Beute machten, als er mit seiner Einheit einen abseits gelegenen, bestens versorgten Edelhof entdeckte: »Einwohner waren nirgends zu finden, auch der Edelhof ganz verlassen, die Vorräte aber nicht alle wie gewöhnlich fortgeschafft. Unsere Leute kamen in drolligen Anzügen zurück. Sie waren nämlich beim Durchsuchen des Schlosses auch an die versteckte Garderobe des Haustheaters geraten und hatten das, was ihnen gefallen, mitgenommen. Allerhand Charakteranzüge waren dabei, die die Szene belebten und Heiterkeit verbreiteten. Um uns nicht zu vereinzeln, hatten wir einigelange Scheunen bezogen, in welchen unsere Pferde bis unter den Leib in ungedroschenem Hafer standen und sich bene taten. Die Eingänge hatten wir fest verrammelt, um uns vor dem ersten Anlauf sicherzustellen. Die ganze Nacht hindurch wurde gekocht und gegessen, es wahr ein wahres Götterleben, denn nach solchen Entbehrungen sind Schweinefleisch, Sauerkraut, Erbsen und Kartoffeln wahre Leckerbissen. Und alles dieses hatten wir heute im Überfluß. Auch ein ziemlich großes Faß voll

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