Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Schnaps aufzutreiben, und kam mit einer unglaublichen Nachricht von seinem Beutezug zurück, die Hauptmann von Brandt gar nicht glauben wollte: »Hätte man nicht ganz den Kopf verloren, meinte der ehrliche Wasilenka, so könnte man noch mancherlei haben – alle Kartoffelgruben sind noch voll, aber mit den Franzosen ist nichts mehr zu machen. Die Kerle sindgar nicht mehr die alten, eine Kosakenmütze bringt alles durcheinander; es ist eine wahre Schande. Ist doch der Herr Kaiser selbst auf und davon gelaufen! Ich fragte unseren Freund, was er damit meine. ›Nun‹, entgegnete er, ›der Kaiser ist mit seinen Marschällen fort und läßt uns im Elend allein.‹ – ›Aber woher weißt du das, wie kannst du so etwas erzählen?‹ – ›Herr‹, antwortete er, ›alle Franzosen im Orte sprechen davon und schimpfen darüber.‹ Ich tröstete mich endlich mit der Ansicht, der Kaiser werde nur nach Wilna vorausgegangen sein, um dort das Nötige zu besorgen. ›Bewahre‹, sagte Wasilenka, ›er hat ja dem Murat den Oberbefehl übergeben.‹ Ich blieb bei meinem Unglauben, und meine Freunde teilten meine Ansicht.«
Doch es stimmte: Napoleon war nicht mehr bei seinen Soldaten. Schon am 6. November hatte ihm Pierre Graf Daru in Michailewka eine beunruhigende Nachricht überbracht: General Claude-François Malet hatte gemeinsam mit zwei anderen Generalen am 22./23. Oktober in Paris einen Putschversuch unternommen, der nur mühsam niedergeschlagen werden konnte. Der mißglückte Staatsstreich aber machte Napoleon klar, wie gefährlich es war, über Monate ohne eine intensive Verbindung von seiner Hauptstadt fernzubleiben, denn Paris war im Oktober zwei Wochen lang ohne eine Nachricht aus Rußland gewesen, und Malet ließ verbreiten, Napoleon sei tot. Der Aufbruch nach Paris hatte mehrere Ziele: die Präsenz des Kaisers, die Aufstellung neuer Divisionen und die Bekanntgabe seiner Niederlage. In Molodetschno schrieb Napoleon am 3. Dezember das 29. Bulletin der Grande Armée . Er gab darin die Vernichtung der Armee unumwunden zu, machte aber nur den Winter für die Katastrophe verantwortlich. Dieses Bulletin sollte noch vor seinem Eintreffen in Paris in mehreren europäischen Sprachen ausgegeben werden. In Smorgonie ernannte Napoleon seinen Schwager Joachim Murat zu seinem Stellvertreter und begab sich dann am 5. Dezember abends um 22 Uhr auf die Reise, natürlichstreng inkognito und unter absoluter Geheimhaltung. Man fuhr in zwei Wagen: Napoleon, Caulaincourt, Duroc, General Mouton und die Diener Roustam und Constant. In Oschmiani, südöstlich von Wilna, hatten die Russen kurz vor dem Eintreffen der Wagen angegriffen, konnten zwar zurückgeschlagen werden, blieben aber weiterhin in der Nähe. Eine Eskorte soeben eingetroffener neapolitanischer Kavallerie bildete die Avantgarde und die unmittelbare Bedeckung der beiden Wagen; in Wilna waren nur noch acht Reiter übrig, die anderen erfroren.
»Napoleons Abreise gab das Zeichen zur gänzlichen Auflösung der Armee«, schreibt Major Roman Graf Soltyk. Leutnant Karl von Kurz registrierte verschiedene Reaktionen der Soldaten: »Die Mehrzahl derselben ergoß sich in ungemessenem Tadel, ja, nicht selten gemeinen Verunglimpfungen über Napoleon; sie behaupteten, er verließe jetzt herzlos diejenigen, die er in der unbegreiflichen Verblendung seines Ehrgeizes in diese verzweifelte Lage gestürzt habe, und sei, sie ihrem traurigen Geschick überlassend, nur auf persönliche Rettung bedacht.
Die Vernünftigeren aber erkannten als gerechtfertigte Notwendigkeit diese schnelle Entfernung von den Resten einer Armee, die er in eine bessere Lage zu setzen ein Gott hätte sein müssen, und wußten wohl, daß die schleunige Gegenwart des Kaisers in Frankreich nicht nur zur Beschwörung der dortigen Faktionen, sondern auch zur Organisierung neuer Armeen, von Vernunft und Politik dringend geboten, notwendiger sei als längeres tatenloses Verweilen inmitten fliehender Trümmer einer ehemaligen Armee, die, alle zusammengenommen, ein geschlossenes feindliches Regiment zu überwinden, wenn auch den Mut, nicht mehr die Kräfte gehabt hätten.«
Der verzweifelte Kampf ums Überleben in einer Kälte, die Minustemperaturen von 30 bis 37 Grad Celsius erreicht hatte, verdrängte den Gedanken an Napoleons Abreise. »Jedes Biwak«,schreibt der badische Feldwebel Joseph Steinmüller in sein Tagebuch am 7. Dezember, »stellte uns am folgenden Tag das Bild eines Schlachtfeldes dar, so groß war die Zahl der
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