Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Armee von 1806/07, dem Viehsterben und der gänzlichen Nahrungslosigkeit gefolgt war, hatte alle Preise der Cerealien derart heruntergedrückt, daß sie kaum die Produktionskosten deckten. Die Rinderpest, eine große Feuersbrunst hatte viel geschadet, und nun kamen die neuen Durchzüge. Kurze Zeit vor meiner Ankunft hatte Marschall Ney mit seinem Stabe bei den Eltern gelegen; der Kronprinz von Württemberg hatte gleichfalls einige Nächte und einige Tage bei uns zugebracht; ein Bataillon hatte auf dem geräumigen Hof biwakiert. Unabsehbare Train-Kolonnen hatten alles mitgenommen, den letzten Futtervorrat erpreßt, die Arbeitspferde waren Tag und Nacht auf den Landstraßen, und trotz einer Sauvegarde schaltete man wie in Feindesland. (…) Die Meinen empfingen mich mit Tränen. ›Du hast einst bessere Tage hier gekannt, mein Sohn‹, sagte mein Vater. ›Du kommst heute in das Haus eines Bettlers.‹ Während ich noch in meines Vaters Armen lag, kam die Anzeige, daß man auf einem der Vorwerke alles vom Boden und aus den Scheunen genommen,daß man nichts übriggelassen, die Pferde zu füttern. Der Kommandeur der Kolonnen, zu dem ich sofort ritt, entschuldigte sich mit der Notdurft, daß die Magazine leer – aber er werde über alles seine Bons geben – er sei dem Kaiser für die Erhaltung des Materials verantwortlich; er dürfe, könne und würde überall die notwendige Fourage nehmen, wenn nur dabei die Vorschriften beobachtet würden, und dies sei geschehen. Ich darf wohl sagen, daß die 48 Stunden, die ich in meinem elterlichen Hause zubrachte, mir eine wahre Qual waren. Ich sah überall Leiden und Elend und stets in eine Art gesetzlicher Form gegossen, aber darum, ich möchte sagen, vielleicht um so unerträglicher.«
Das eigentliche Dilemma hatte der württembergische Soldat Jakob Walter benannt: Den unterernährten Truppen war zwar das Plündern bei Todesstrafe verboten, sie mußten aber im Land fouragieren, wollten sie nicht verhungern, und sie raubten auf Befehl ihrer Vorgesetzten. Diese Quadratur des Kreises lösten weder der Kronprinz von Württemberg noch Napoleon, der ohnehin die Probleme einer überall zusammenbrechenden Logistik ignorierte, wie sich in einem besonders eklatanten Fall zeigte. Als die zum 3. Armeekorps gehörende württembergische Kavallerie in Polen einrückte und von den Magazinen Versorgung für Mensch und Tier holen wollte, erlebte sie eine böse Überraschung: Die Bestände seien nur für die französischen Einheiten bestimmt, lautete der Bescheid, und die daraufhin um Hilfe gebetenen Beamten des Herzogtums Warschau rührten für die deutschen Verbündeten keinen Finger. Der polnische Adel war im allgemeinen besser mit Vorräten versehen als die Bauern, hatte diese aber längst vergraben und versteckt und weigerte sich, irgend etwas gegen staatliche Quittungen (Bons) herauszugeben. Das zwang die württembergischen Reiter, wollten sie nicht verhungern, zu den bekannten Requisitionen auf eigene Faust.
Nun erließ am 30. Mai Marschall Michel Ney, Kommandeur des 3. Armeekorps, den Befehl, die Kavallerie habe sichinnerhalb von 48 Stunden mit 800 Schlachtochsen als Marschverpflegung für die kommenden 20 Tage zu versorgen. Dem Chef der württembergischen Kavallerie, Generalleutnant Wilhelm von Woellwarth, wurde mitgeteilt, er habe sich deswegen mit den Landesbehörden zu verständigen. Aber die Distriktspräfekten von Thorn erklärten ihm kurzerhand, daß sie nicht imstande seien, zur Verpflegung der Truppen mitzuwirken, und »ihre Distrikte der Diskretion der Truppen preisgeben« müssten, was eine vornehme Umschreibung dafür war, sich auf eigene Faust in den Besitz des Schlachtviehs zu bringen, also Plünderung gegen Quittung bedeutete. Die Empörung der polnischen Gutsbesitzer war groß, und als Napoleon am 2. Juni in Thorn eintraf, standen schon die Geschädigten vor den Toren, um »über die beispiellosen Exzesse der württembergischen Kavallerie« zu klagen, so hatte es der polnische General Vincenz Krasinski, Kommandeur des ersten Regiments der französischen Garde-Lanciers, seinen Landsleuten geraten. Er tat dies um so lieber, als es während der Requisitionen zwischen polnischer Kavallerie, die ihre Gutsherren schützen wollte, und den plündernden Württembergern zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Marschall Ney, der eigentlich Verantwortliche, zog es jedoch vor, gegenüber seinem Kaiser den von ihm selbst gegebenen Befehl zu verschweigen. Als die letzten württembergischen
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