Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
eingeliefert wurde, weil sein ganzer Körper von einem Ausschlag befallen war.
»Hier lagen Kranke aller Nationen. Der Spitalarzt war ein geborener Österreicher und stand in russischen Diensten. Dieses Spital war für mich, der so viel erlitten hatte, ein wahres Paradies. Die Kranken wurden behandelt, genährt und gepflegt, als wären sie in Deutschland. Es fehlte nicht an Medikamenten für die, welche deren bedurften, nicht an guter Kost für die Genesenden. Wir lagen alle auf Matratzen, und diejenigen, deren Gesundheitszustand es erlaubte, bekamen jeden Morgen eine gute Suppe, zu Mittag Fleisch, Gemüse und ein Pfund Brot und abends wieder Suppe. – Unter diesen Glücklichen war auch ich. Hier fühlte ich mich wieder als ein Mensch unter Menschen. Da ich nicht mehr so sehr mit körperlichem Elend zu kämpfen hatte, so erwachte der Schmerz meiner Seele desto stärker. Ich gedachte meiner Walpurga, und meine Tränen flossen oft um sie.«
Als Schrafel nach fünf Wochen von seinem Ausschlag wieder genesen war, nahm er eine Stellung bei einem deutschen Apotheker in Tschernigow an. Auch hier versuchte man, Schrafel unter Drohungen zum Eintritt in die Russisch-Deutsche Legion zu bewegen, was der Feldwebel aber ablehnte. Mit den gefangenen Franzosen verstanden Schrafel und seine Kameraden sich gut. »Eines Tages veranstalteten die Franzosen ein Gelage zu Ehren des Kaisers Napoleon, bei dem wir auf den großen Heerführer ein lautes Hoch ausbrachten. Dies hätte uns teuer zu stehen kommen können. Es wurde dem Gouverneur gemeldet, und jeder andere hätte uns auf das grausamste bestrafen lassen. So aber kamen wir mit der Warnung davon, uns dergleichen nicht wieder zu unterstehen, wenn wir nicht mit dem Kantschu büßen wollten.«
Am 23. Dezember traten die Gefangenen zu Fuß die Heimreise an. Über Kiew und Warschau, wo sie zwei Wochen bleibenmußten, erreichte die Kolonne, soweit sie aus Bayern bestand, am 19. April 1814 Nürnberg. »Mit klingendem Spiele, mit fliegenden Fahnen, gegen zweitausend Mann stark, unter der Begleitung einer zahllosen Menschenmenge, die Brust von frohen Hoffnungen geschwellt, waren wir alle ausmarschiert, und einzeln, abgehärmt, halbinvalide kehrten einige wenige zurück, unerkannt und unbeachtet von den Bewohnern. Ich begegnete mehreren alten Bekannten, die mich ansahen und an mir gleichgültig vorübergingen, weil sie mich nicht erkannten.«
Der württembergische Regimentsarzt Heinrich von Roos fiel am 27. November an der Beresina den Kosaken in die Hände. Die Gefangenen wurden nach Borisow gebracht, wo von Roos vor einen russischen General geführt wurde.
»Wer sind Sie?‹ war des Generals Anrede in deutscher Sprache. ›Ich bin Oberarzt; bin gestern in der Frühe gefangengenommen worden und bin willens, als Arzt in einem Hospital Dienste zu tun, solange meine Gefangenschaft dauern wird. Ich habe in dieser Nacht gehört, daß die Russen deutsche Ärzte annehmen.‹ – ›Zu welcher Nation gehören Sie? Wo sind Sie her?‹ – Bei meinen Antworten schien er besonders auf Stuttgart zu reflektieren‹, und als ich seine speziellen Fragen deshalb beantworten konnte, diese bezogen sich auf einen dort lebenden Grafen von Wittgenstein, so wurde er freundlich und wohlwollend.
Unsere Unterredung mochte drei bis vier Minuten gedauert haben, als sie durch das Hereintreten gefangener französischer Offiziere unterbrochen wurde. Der General hatte für jeden Ohr, so elend und schrecklich sie auch aussahen. Einer von ihnen hatte sogar einen Pferdeteppich über sich hängen. Auf die Frage des Generals: Wer er sei? antwortete er: ›Je suis chef d’escadron d’un régiment de chasseurs‹ usw. (Ich bin Eskadronchef eines Jägerregiments) . Als aber ein französischer Arzt eintrat, der noch weit elender aussah als ich und alle übrigen, mager und schwarz wie eine Negerleiche, in lumpigenund verbrannten Kleidern wie ein Betteljude, und in seinen zitternden Händen ein Gemisch von roher Gerste, Erbsen und Erde zeigend mit den Worten: ›Depuis cinque jours voilà mon aliment; je suis prisonnier et malade; vous voyez ma misère‹ (Seit fünf Tagen ist das meine Verpflegung; ich bin Gefangener und krank; Sie sehen mein Elend) . Da sagte der General zu einem nahe stehenden Diener: ›Gib Brot! Das Elend dieser Menschen ist ja furchtbar und schrecklich!‹ Der Diener brachte ein großes Brot, etwa von 12–15 Pfund, die an uns verteilt wurden. Ich ging alsbald mit meinem Brot beiseite und fragte einen
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