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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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die Räder und schlugen mit Fäusten und Knitteln auf uns ein. Jetzt mußten wir das Äußerste versuchen. Wir riefen den Kosaken zu, sie sollten bedenken, daß wir Offiziere wären und daß wir sie für alle Mißhandlungen, welche uns widerführen, verantwortlich machen würden. Dieses wirkte. Sie trieben nun die Bauern, welche es doch gar zu arg machten, zurück, schlugen den Wagendeckel zu, und unsere jämmerliche Fahrt ging weiter. (…) Im zweiten und dritten Dorfe wiederholte sich das famose Schauspiel immer von neuem. Unsere dermaligen Kosaken zeigten nicht einen Funken von der Gutmütigkeit der früheren; sie gehörten zu den schlechten Ausnahmen von der guten Regel. Sie waren Quälgeister wie die irregulären Verben einst auf der Schule. Nicht allein daß sie uns dem Pöbel immer von neuem preisgaben, sondern sie lachten noch dazu uns aus, wenn wir uns nicht mehr begaffen und bespeien lassen wollten.«
    Nachdem die Gefangenen von den Kosaken durchgeprügelt worden waren, weil sie einem an der Straße aufgestelltesHeiligenbild nicht die nötige Reverenz erwiesen hatten, schickte man ihnen in Juchnow zur Bekehrung einen Popen. »Leider verstanden wir außer den schon erwähnten Redensarten, welche uns die Kosaken beigebracht hatten, weiter kein Russisch, der Pope aber verstand weder Französisch noch Deutsch, noch auch Polnisch, wovon wir einige Brocken hin und wieder aufgeschnappt hatten. So wurde denn endlich das liebe alte Latein von der Domschule wieder hervorgesucht. Wie hätte ich jemals gedacht, daß es mir würde in Rußland ein gutes Abendbrot einbringen! – Und doch geschah dieses Wunder. Ich sprach also Latein. Das fleckte! Ich sprach wie Julius Caesar, der Pope wie M. Tullius Cicero. Meinen guten alten Lehrern würde das Herz in der Brust gelacht haben, wenn sie unsern Discurs hätten anhören können. Nun kam ich auch dahinter, daß die Russen uns für ungeschlachte Heiden hielten. Denn der Pope hub sein Examen damit an: › Creditisne in Deum ?‹ Und als ich flugs antwortete: › Credo in unum Deum, Filium et Spiritum Sanctum !‹, jauchzte der gute Mann laut auf vor Freuden, teilte allen umstehenden Russen diese frohe Entdeckung mit und – was diesmal für uns die Hauptsache war – schickte sogleich einen Boten nach seiner Wohnung, um Essen und Trinken für uns Christen herbeiholen zu lassen. Nur bedauerte er in seiner Gutmütigkeit recht sehr, daß wir gerade zu einer Fastenzeit hier eingetroffen wären und er uns also nur mit Fischspeisen aufwarten könne. – Ach, für uns Verhungerte war alles irgend Eßbare ein Manna vom Himmel! – welch eine liebliche Erscheinung der Bote, als er mit schönem Bier, Schnaps und Brot daherwandelte und ihm ein zweiter mit einer großen Terrine Fischsuppe auf dem Fuße folgte! – Mit inniger Freude sah uns der gute Geistliche zu, als wir seine Gaben uns mit dem besten Appetit von der Welt schmecken ließen. Als wir denn nun uns vollkommen erquickt hatten, wurde der lateinische Discurs wieder in Gang gebracht.«
    Von Juchnow ging der Konvoi – 400 Gefangene zu Fuß, dieOffiziere in vier Schlitten – weiter ostwärts in Richtung Kaluga, geleitet von einem Hauptmann der Miliz, der die Offiziere fast unablässig mit seinem Kantschu (Riemenpeitsche) prügelte, »daß mir das Blut aus Mund und Nase floß und ich am ganzen Körper mich wie geradebrecht fühlte«. Spätabends wurden sie in eine Bauernstube getrieben, wo sie die ganze Nacht hindurch eng aneinandergepreßt stehen mußten und zu ersticken glaubten. Sieben Gefangene überlebten das nicht. Am nächsten Tag mußten nun auch die Offiziere, denen man die (vom Zaren vorgeschriebenen) Schlitten genommen hatte, zu Fuß gehen, was Wachsmuth mit seiner Fußverletzung besonders schwer wurde. »Von jetzt an bezeichnete Blut unsern furchtbaren Pfad durch die russische Schneewüste. Denn fast alle zehn Minuten erscholl der Ruf Postoi! (Halt!), der mir noch jetzt ins Ohr klingt und mich schaudern macht. Da stand nun, wenn es Postoi! hieß, eine dieser Jammergestalten. Die Kräfte waren gänzlich hingeschwunden. Der Elende konnte keinen Fuß mehr vor den andern setzen. Gemeiniglich redete er irre. Zuweilen war er noch bei vollem Bewußtsein. Aber der Tod stierte ihm zu den erloschenen, gebrochenen, tief eingesunkenen Augen heraus. Er schwankte noch. Jetzt wollte er umsinken. Stracks steckten ihm drei, vier, fünf Spieße der Druschinen (Bauernmilizen) in der Brust und im Unterleibe. Schwarzes Blut stürzte aus

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