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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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entkräftet war, daß er der Kolonne von 400 Gefangenen nicht mehr folgen konnte, brachte man ihn in ein Dorf in das Haus eines Webers. Ein Edelmann versprach ihm und einigen anderenGefangenen Brot, das aber nie kam, denn er unterschlug, wie allgemein üblich, das vom Zaren ausgezahlte Verpflegungsgeld. Nur das Organisationstalent seiner resoluten Frau, der es tatsächlich gelang, etwas Nahrung aufzutreiben, rettete Schrafel das Leben. Doch jetzt bekam sie Typhus. »Der Zustand meiner Frau verschlimmerte sich stündlich, und meine Angst und Sorge wurden immer größer. Abends wurde sie still. Als es schon ganz dunkel war, begehrte sie, daß man ihr aufhelfe. Ich vermochte es allein nicht; denn ich war zu schwach, aufzustehen. Ich bat den Bedienten des Oberleutnants (Baumgratz) , mir behilflich zu sein. Er richtete sie empor, und ich half kniend, soviel ich konnte. Plötzlich neigte Walpurga den Kopf gegen mich und ließ ihn dann sinken. ›Walpurga, Walpurga‹, rief ich aus, ›was ist dir?‹ Der Bediente strengte seine ganze Kraft an, sie aufzurichten. Umsonst. Sie war tot. – Nur wer Ähnliches erlebt hat, kann ermessen, wie mir jetzt zumute war. Ich ließ sie los, sank verzweiflungsvoll auf mein Lager zurück und stieß einen entsetzlichen Klageschrei aus. Mein Elend war grenzenlos. Sie, der ich mein Leben wohl tausendmal zu verdanken hatte, meine Retterin, Pflegerin, Erhalterin, lag tot an meiner Seite. Meine Sinne verwirrten sich; ich wußte einige Zeit nicht, wie mir geschah, noch, wo ich war. Baumgratz sprach mir Trost zu. ›Sie ist erlöst‹, sagte er, ›und wir sind auch nicht ganz verlassen, können wir gleich nicht mehr auf, so ist ja doch mein Bedienter noch da, der uns helfen und pflegen kann.‹ Doch taub für alle Trostworte, zog ich meine wollene Decke über den Kopf und ließ meinem Tränenstrom freien Lauf.«
    Am nächsten Morgen fand Oberleutnant Baumgratz, dem die Füße erfroren waren, auch seinen Bedienten tot neben Walpurga Schrafel. Am Tag danach kam endlich ein Bauer, der sich gegen Schrafels letzte Münze bewegen ließ, einen Topf Wasser zu bringen. »Bald kam er mit Wasser wieder. Er gab nun jedem zu trinken, nahm den Düt (kleine Münze) , stellte den Topf auf die Bank und ging seines Wegs. Als michkurz darauf der Durst wieder quälte, kroch ich zur Bank, fand aber das Wasser gefroren. Nun hatten wir alle Aussicht auf Rettung verloren, es war nicht zu vermuten, daß sich irgend jemand um uns bekümmern würde. Ließ man doch sogar die Verstorbenen liegen, die früher immer weggebracht worden waren. So lagen wir drei Tage und Nächte bei den Toten, ohne daß sich uns ein menschlicher Fuß näherte. Doch ja – in einer dieser Nächte schlich jemand herein, aber nicht um uns beizustehen, sondern um mir die wollene Decke, meinen einzigen Schutz gegen die schreckliche Kälte, vom Leibe zu reißen. So war ich also von allem entblößt und erwartete nun sehnsuchtsvoll den Tod. In der Nacht, die dem Schreckenstage folgte, erblickten wir durch das Fenster den Schein eines Lichts, und bald darauf trat ein Bauer mit einer Windfackel in die Stube und sah sich um. Wir dachten, er käme, um uns den Garaus zu machen, aber er entfernte sich wieder und kam bald mit einem anderen zurück. Einer packte meine Frau, der andere den Bedienten und trugen sie vor die Tür, wo wir gleich darauf einen Schlitten wegfahren hörten. Unser Jammer überstieg allen Begriff. War Walpurga gleich tot, so war sie doch bis jetzt in meiner Nähe, und dies hatte mir einigen Trost gewährt. Jetzt war sie fort, auf ewig fort, in dieser Welt nicht wiederzusehen. Ich weinte die ganze Nacht durch.«
    Schließlich schleppte sich Schrafel mit letzter Kraft durch den Schnee zur Gesindestube des Edelhofs, wo er der Gewalttätigkeit der Bauern nur durch das beherzte Eingreifen einer Bäuerin entging, die den Zusammenbrechenden mit etwas warmer Suppe am Leben hielt. Und auch der Oberleutnant Baumgratz kroch auf allen vieren ins Haus, und auch ihn rettete die Bäuerin vor der Wut der Bauern. Nach einer Woche wurden beide von Kosaken in einem Schlitten abgeholt und nach Borisow an der Beresina gebracht. Da der dortige Kommandant nichts zahlen wollte, kippten die Bauern die 16 Gefangenen in den Schnee und fuhren davon. Zwei gutmütige Russen nahmen sie auf und versorgten sie. Nach wochenlangenTransporten gelangten die jetzt 180 Gefangene starke Kolonne (von 500) im Sommer nach Kalobinitz und Tschernigow, wo Schrafel in ein Lazarett

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