Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
stierten uns Totengesichter an, streckten sich uns abgemagerte Arme entgegen, in allen europäischen Sprachen um einen Bissen Brot flehend, und aus allen Zimmern quoll uns der gräßlichste Geruch entgegen. Wie viele Tausende mögen hier vor Hunger umgekonmen sein, wenn ihnen auch wirklich die schauderhaften Wunden, deren Heilung ihnen selbst überlassen blieb, nicht den Garaus gemacht haben!« Wachsmuth erwähnt nicht, daß ihm dieser Besuch eigentlich untersagt war. Denn, so Ludewig Fleck: »Damit das Jammern dieser Unglücklichen uns nicht zu sehr entmutigte, wurde es den Truppen verboten, sich dem Kloster zu nähern, und sein Besuch aufs strengste untersagt.«
Diese grauenhaften Zustände im Kloster Kolotzkoi werden auch von Jean-Dominique Larrey, dem Chefchirurgen der Garde, bestätigt. Er zählte hier 700 Verwundete und Kranke, die »förmlich auf einem verseuchten Misthaufen, von allen Seiten von Leichen umgeben«, verkümmerten und unter Larreys Augen frisch verbunden und, falls nötig, auch sofort operiert wurden. Napoleon, dem Larrey berichtete, ordnete daraufhin an, die Insassen nach Wjasma zu bringen, und bis auf 40 Verwundete, die nicht transportfähig waren, wurden tatsächlich alle verladen. Doch Napoleons gute Absicht wurde schon bald wieder zunichte gemacht, wie Regimentsarzt von Roos erlebte: »Jeder vorüberfahrende Wagen, er mochte nun einem Marschall oder Obersten gehören, jeder Fourgon (Packwagen) , Marketenderwagen oder Droschke mußten einen oder zwei derselben aufnehmen. Eine württembergische Brigade, aus Jägern zu Fuß und leichter Infanterie bestehend, deren Zahl sich damals noch auf 200 Mann belief, war vom Kaiser namentlich bestimmt, diesen Befehl zu vollführen. Diese Soldaten trugen die Verwundeten heraus, und ihre Offiziere wiesen denselben die Plätze an. Während die Offiziere in solchem Auftrag einen Vorzug, ein Ehrenamt erkannten, beklagten sich ihre Untergebenen bitter über diese Mühe. Indessenwurde der Befehl aufs pünktlichste ausgeführt, und das Geschäft war in anderthalb Stunden beendet. So gut die Absicht des Kaisers war, so übel erging es den unglücklichen Verwundeten. Sie waren groben Kutschern, stolzen Kammerdienern, rohen Marketendern, reich und hochmütig gewordenen Soldatenweibern, unbarmherzigen Waffenbrüdern und dem allerrohesten Troß, Trainsoldaten, anvertraut; diese alle ließen sich’s angelegen sein, sie so bald als nur möglich wieder loszuwerden. In den Nachtlagern oder unterwegs, wenn diese Armen das Bedürfnis zum Absteigen hatten oder ihre Wunden verbanden, wurden sie im Stiche gelassen. Schon den andern Tag sah ich einige jammernd an der Straße liegen und um Hilfe flehen; später sah man zwar keinen mehr, hörte aber die schauderhaftesten Erzählungen von ihrem Schicksal und von der Roheit ihrer Führer.«
Ein Konvoi aus 300 Wagen mit verwundeten Offizieren, die der Musiker Friedrich Klinkhardt begleitete, wurde in der Gegend von Wjasma von Kosaken angegriffen. Drei Tage lang verteidigten sie sich gegen den Feind. »Unsere wohlgezielten Schüsse zwischen den Rädern der Wagen hindurch richteten ein ziemliches Blutbad unter den Angreifern an, entschieden wurde die Sache indessen nicht. Die wenigen polnischen Reiter, die uns noch begleiteten, verließen uns hier, um unter Poniatowski in Polen neue Regimenter zu bilden, vertrieben aber den Feind, so daß am vierten Morgen unsere Fahrt fortgesetzt werden konnte.(…) Die Lage wurde immer trostloser, Menschen und Tiere waren vollständig erschöpft und Lebensmittel kaum noch zu erlangen. Die ganze Karawane blieb halten; man warf die verwundeten Offiziere aus dem Wagen, und achtlos ging Mensch und Tier über die Ärmsten hinweg.«
Die schon längst eingetretene Verrohung traf nicht nur die eigenen Verwundeten, sondern seit einiger Zeit erst recht die mitgeschleppten russischen Gefangenen, von denen man seit Moskau etwa 2000 mitführte. »Ihr Los war anfangs erträglich«,schreibt Leutnant Karl von Kurz, »denn ich weiß aus meiner früheren Lebensperiode aus eigener Erfahrung, daß die Franzosen ihre Kriegsgefangenen menschlich behandeln. Als nun die Lebensmittel, die man von Moskau mitgenommen hatte, zur Neige gingen und mit der angehenden Not zugleich der nordische Winter eintrat, wich von ihren ergrimmten Führern alle Menschlichkeit. Man pferchte sie auf dem mit Schnee und Eis bedeckten Boden wie die Schafe zusammen. Hier durften sie sich aus dem engen Raum, der ihnen angewiesen war, unter
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