Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
keinem Vorwand entfernen. Ohne Feuer, ohne einige Nahrung, vor Frost und Hunger sterbend, lagen sie auf der gefrorenen Erde. Um den nagenden Hunger zu stillen, fielen sie wütend über das rohe Pferdefleisch her, das man ihnen gleich den wilden Tieren zuwarf. Zuletzt konnte man ihnen auch dieses nicht mehr geben, und so sollen die Überlebenden immer das Fleisch ihrer toten Kameraden verzehrt haben, bis auch der letzte in diesem Elend umkam.«
Das Töten russsischer Gefangener hatte es vereinzelt schon früher gegeben. Der württembergische Soldat Jakob Walter spricht in seiner naiven Darstellung davon, daß dies schon auf dem Marsch nach Moskau vorgefallen sei: »Jeder, der Schwäche halber zurückblieb und die Arrièregarde rückwärts erreichte, wurde in das Genick geschossen, so daß jedesmal das Gehirn neben ihn hinplatzte, so sah ich alle 50 bis 100 Schritt wieder einen Erschossenen, dem der Kopf noch rauchte.« Auch der westphälische Kanonier Heinrich Wesemann weiß von solchen Erschießungen noch vor Anfang September: »Als unser Marsch uns einige Tage nachher durch einen Wald führte, hörten wir einmal einzelne Flintenschüsse fallen, obgleich wir die Russen fern glaubten. Bald indes entdeckten wir die Ursache davon. Ein Trupp kriegsgefangener Russen wurde durch westphälische Infanterie eskortiert. Indem wir nähergekommen waren, sank ein Russe ermüdet nieder. Gleich trat ein Westphälinger zu ihm, richtete das Gewehr auf ihn und wollte den Unglücklichen erschießen. Da wir unterdes naheherankamen, so sprang Leutnant Kröschel hinzu, riß das Gewehr zurück und stellte ihm vor, wie unbarmherzig er handele, wie leicht ihn selbst das Schicksal treffen könne, als Kriegsgefangener von Russen transportiert zu werden, und wie er ja keinen Schaden davon habe, wenn der Ermüdete sich wieder erhole und vielleicht zu seinen Verwandten zurückkehrte. Doch der Soldat erwiderte, es sei Befehl, die Ermüdeten zu erschießen, und nur mit Mühe gelang es dem Leutnant, diesem Russen das Leben zu retten. Nachdem wir weitergezogen waren, hörten wir aus der Entfernung doch noch einige Schüsse und fanden wohl zehn erschossene Russen am Wege liegen.«
Es sei »Befehl«, aber wer gab ihn? Regimentsarzt Heinrich von Roos sah erschossene Gefangene beim Rückzug vor Gschatsk: »Es fiel uns auf, hier mitten auf der Straße, von Strecke zu Strecke, einzelne frische Leichen russischer Soldaten, die, wie deutlich zu ersehen war, kurz zuvor durch einen Schuß in den Kopf getötet worden waren, liegen zu sehen, ja, eine solche Leiche fanden wir noch warm. Wir konnten uns diese auffallende Erscheinung nicht erklären, erfuhren aber in Gschatsk, daß bei dem Wagenzug des Kaisers sich auch eine Abteilung gefangener Russen befinde. Diese sowie jener würden von badischen Grenadieren eskortiert, und an letztere sei der strenge und grausame Befehl erteilt worden, daß, wenn einer der Gefangenen ermatte und nicht mehr weitergehen könne, er sogleich erschossen werden solle. Auf der Strecke, die wir bis zum Abend noch zurücklegten, fanden wir dieser Leichen etwa acht. Die Wahrheit dieser Angabe bestätigte sich dadurch, daß die badischen Grenadiere wirklich Napoleons Bagage, Kasse und Küche bis an die Beresina eskortierten. Noch nähere Beweise erhielt ich später zu Borisow an der Beresina durch zwei Unteroffiziere dieser badischen Grenadiere, die dort als Mitgefangene meine Diener waren und mir von diesem Vorgange öfters erzählten. Napoleon selbst, sagten sie, habe diesen Befehl gegeben; dieOffiziere in seinem Stabe hätten teils für, teils gegen diese Handlung gestimmt; unter den letztern nannten sie (Generalstabschef) Berthier und noch einen andern, die einigen Grenadieren sogar die Weisung zugeflüstert hätten, sie sollten die Gefangenen zur Nachtzeit nach und nach entschlüpfen lassen. Diese Unteroffiziere versicherten weiter, sie hätten den Leuten Winke und Deutungen, zumal nachts am Feuer, gegeben und sie zu diesem Ende mit Töpfen nach Wasser in die Wälder geschickt, aber sie wären immer wieder zurückgekommen, hätten Wasser gebracht und wären zu unentschlossen und ängstlich zur Desertion gewesen.«
Von diesen Erschießungen bei Gschatsk berichtet auch Napoleons Adjutant General de Ségur: »Am Abende dieses peinlich langen Tages näherte sich die kaiserliche Kolonne der Stadt Gschatsk und erstaunte nicht wenig, kurz zuvor erst getötete Russen auf ihrem Wege anzutreffen. Man bemerkte, daß jedem derselben der Kopf
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