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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Russen. ›Wie?‹ rief Napoleon verwundert aus, ›Russen vor uns?‹ Der Ordonnanzoffizier erwiderte: ›Sire, ich habe erfahren, daß die Spanier und Portugiesen, welche die Gefangenen führen, mehrere erschossen hätten, weil sie nicht weitermarschieren wollten.‹ Napoleons Gesicht wurde finster: ›Wie?‹ sagte er schnell, ›man ermordet die Gefangenen? Berthier, was soll das heißen?‹ Berthier antwortete, daß er nichts davon wisse und daß er sich auf der Stelle erkundigen wolle. Bei der Untersuchung behaupteten die spanischen Soldaten, daß die Gefangenen in einem verlassenen Proviantwagen Branntwein gefunden, übermäßig getrunkenund im Rausche die Soldaten der Bedeckung hätten entwaffnen wollen, worauf diese Feuer auf sie gegeben hätten.«
    Dies scheint Napoleon eindeutig zu entlasten. Aber es gibt ein unverdächtiges Zeugnis, daß tatsächlich ein schriftlicher Exekutionsbefehl, von wem auch immer, vorgelegen haben muß. Er findet sich im Tagebuch des westphälischen Oberleutnants Friedrich Gieße, das Auskunft darüber gibt, wie die Gefangenentransporte organisiert wurden. Von Moskau aus hatte man Gefangene Mitte September nach Moshaisk gebracht, wo sie in einem jämmerlichen Zustand eingetroffen waren. Von hier aus sollten sie nach Smolensk gebracht werden, eskortiert von 30 bis 50 westphälischen Soldaten. »Hatten wir des Elends schon sattsam um uns her wahrzunehmen gehabt, so überstieg doch dasjenige, wie es unter den Gefangenen sich auswies, alle nur menschliche Vorstellung! Dem Hungertode und dem Verschmachten nahe, wurden diese lebendigen Leichen wie das Stück Vieh des Abends in Kirchen, Scheunen oder Ställe und des Morgens daraus wieder weitergetrieben, ohne daß ihnen – bei dem allerbesten Willen – nur die geringste Labung gereicht können werden. Fleisch von Viehkadavers, deren längs der ganzen Heerstraße hingestreckt lagen, mußte darum ihre Nahrung sein! Bei solch einer schaudererregenden Kost hatten sie Tag für Tag, von einer Etappe zur andern, die anstrengendsten Märsche und der sie eskortierende Offizier den schriftlichen kaiserlichen Befehl und die persönliche Verantwortlichkeit für dessen Vollziehung über sich, ›jeden gefangenen Russen, der wegen Krankheit, Ermattung oder Böswilligkeit auf dem Marsche zurückbleibe und denselben nicht fortsetzen könne, Miene mache, vom Transport zu desertieren, oder als ein davon Desertierter wieder eingeholt werde: auf der Stelle niederzuschießen!‹« Also doch ein Befehl Napoleons? Gieße rechtfertigt diese »barbarische Härte«, indem er darauf hinweist, daß die Ermordung von Gefangenen schon weit früher von den Russen betrieben worden sei (worüber in einem späteren Kapitel nochausführlich zu sprechen sein wird), vor allem aber daß zurückgelassene Gefangene sich augenblicklich den Partisanen angeschlossen hätten.
    Oberleutnant Gieße, inzwischen mit seinem Bataillon in Wjasma, erhielt am 1. Oktober den Befehl, einen Transport von 252 russischen Gefangenen nach Dorogobusch zu bringen; als Eskorte standen ihm 60 Infanteristen und 7 Husaren zur Verfügung. Die Russen – »abgemergelte menschliche Wesen« – hatten seit Tagen nichts zu essen bekommen und waren schon durch den langen Marsch bis Wjasma erschöpft. »In der Stadt (Wjasma) kam ich durch Straßen, wo Vieh- und Menschenkadaver auf den Brandstätten lagen und in den Gärten Gemüse und Kohlstrünke in den Beeten staken. Sobald die Heißhungrigen dieser Gegenstände ansichtig wurden, stürzten sie, ohne sich aufhalten zu lassen, darauf los, zernagten die ausgerissenen Strünke und Wurzeln mitsamt der noch daran hängengebliebenen Erde und fielen wie gierige Wölfe über die Kadaver, zerfetzten und verschlangen sie stückweise. Hatte einer oder der andere durch Gewandtheit oder Zufall ein besseres Stück davongetragen, gleich überfielen ihn andere, entrissen ihm seine Beute, selten ohne Blut. Ein Leckerbissen schienen für sie Lungen und Leber zu sein, und um dergleichen herauszufinden, wurden von ihnen sogar – wie entsetzlich es auch wohl erscheint und wie unglaublich für den, der es nicht selbsten mit ansah – verkohlte menschliche Leichname nicht verschont.«
    Noch in der Nähe der Stadt brach der erste Gefangene zusammen. Gieße, »von tiefstem Mitleid für ihn durchdrungen«, übergab ihn einer Husaren-Patrouille »zur gefälligen Ablieferung nach Wjasma«. Ins Tagebuch notierte er:
    »Keine halbe Stunde Weges weiter kam mir von der Arrièregarde die

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