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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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hatten viele Verwundete.
    Wäre der Kaiser, wie er ursprünglich wollte, vor Tagesanbruch losgeritten, so wäre er zweifellos nur mit seiner Stabswache und den acht Generalen und Offizieren seiner Suite mitten in diesen Schwarm von Kosaken geraten. Hätten die Kosaken, die uns einen Augenblick auf nächste Entfernung umringten, mehr Mut gehabt, wären sie schweigend auf die Straße vorgestoßen, statt an ihrem Rande zu brüllen und mit den Säbeln zu rasseln – wir wären abgeschnitten gewesen, bevor die Schwadronen uns hätten helfen können. Gewiß, wir hätten unser Leben so teuer verkauft, wie man es mit einem kurzen Degen in einer undurchdringlichen Finsternis vermag – aber sicherlich wäre der Kaiser getötet oder gefangengenommen worden, ohne daß man auch nur gewußt hätte, wo man ihn suchen sollte; denn die weite Ebene war überall mit Buschwerk bedeckt; in seinem Schutz hatten die Kosaken sichauf Flintenschußweite an die Straße und an die Garde herangeschlichen.« Die einzige Konsequenz, die Napoleon aus seiner Unvorsichtigkeit zog, war, sich von seinem Leibarzt Gift geben zu lassen, das er in einem kleinen Seidenbeutel um den Hals trug, um den Russen nicht lebend in die Hände zu fallen.
    Würde Kutusow bei einem weiteren Vormarsch auf Kaluga sich stellen, wäre die eigene Armee noch stark genug, sich auf eine Wiederholung der Schlacht einzulassen? Wäre bei einem Marsch südlich der alten Straße durch noch unberührte Gebiete die Flanke gegen die sich immer mehr verstärkenden Russen zu sichern? Oder sollte man sich nicht doch besser wieder auf die alte Straße nach Smolensk begeben, die zwar ausgeplündert, doch militärisch gesichert war? Das waren Napoleons Überlegungen, der sich wieder von der Illusion leiten ließ, seine Truppen würden überall gutgefüllte Magazine vorfinden. Kutusow seinerseits fühlte sich einem wiederholten Angriff der Grande Armée nicht gewachsen; wenn schon ein einziges, dazu dezimiertes Armeekorps des Gegners gereicht hatte, den Kampf um Malojaroslawez für sich zu entscheiden, wie würde ein von Napoleon selbst kommandiertes Heer einschließlich der immer noch intakten Garde aufzuhalten sein? Und da beide Seiten an ihrem Erfolg zweifelten, nur daß keiner von den Sorgen des anderen etwas ahnte, kam es zu keiner Schlacht. Und die Russen sahen überrascht die Franzosen abziehen, als sie sich selbst gerade vorsichtig zurückzuziehen begannen. Der Feind schwenkte nach Nordwesten ab, zurück auf die alte Smolensker Straße!
    Kutusow war darüber unendlich erleichtert und wollte – anders als seine Generale – von einem Angriff auf die Abziehenden nichts wissen. Man »müsse dem fliehenden Feind goldene Brücken bauen«, sagte er wiederholt seinem Stab gegenüber. Als ihm der englische General Sir Robert Wilson sein zögerliches Verhalten zum Vorwurf machte, wurde er von dem alten Feldmarschall reichlich undiplomatisch abgekanzelt: »Ich kümmere mich nicht um Ihre Einwendungen. Ich willlieber meinem Feind eine ›pont d’or‹ (goldene Brücke) bauen, wie Sie es nennen, als mich einem ›coup de collier‹ (kräftigem Stoß) aussetzen. Außerdem sage ich nochmals, wie ich Ihnen schon früher erklärt habe, daß ich keineswegs sicher bin, ob die gänzliche Vernichtung Kaiser Napoleons und seines Heeres eine solche Wohltat für die Welt sein würde. Seine Nachlassenschaft würde nicht an Rußland oder eine der anderen Kontinentalmächte fallen, sondern an die Macht, die bereits die See beherrscht und deren Herrschaft dann unerträglich sein würde.« Einem Vertreter Englands vor dem versammelten Generalstab zu sagen, man dürfe den Erzfeind nicht zu schwach werden lassen, weil dann Großbritannien zu mächtig würde, war eine ziemliche Unverfrorenheit. Sir Robert antwortete darauf spitz, es handele sich »um eine Erfüllung militärischer Pflicht, nicht um eine politische Debatte«, was Kutusows Abneigung gegen seinen britischen Aufpasser, der alles nach Petersburg meldete, nur verstärkte.
    Und so marschierte die Grande Armée nicht über Kaluga ins südliche Rußland, sondern über Borowsk und Wereja zurück auf die alte Straße, zurück über das Schlachtfeld von Borodino.

13. AUF DER ALTEN STRASSE
    Das Wiedersehen mit dem Schlachtfeld von Borodino sieben Wochen später war für die Soldaten ein Schock. Die mit dem »Aufräumen« beauftragten Westphalen hatten ja nur relativ wenige Tote in Massengräbern beisetzen können und im übrigen, wie geschildert,

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