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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Materialsammlung betrieben. Der westphälische Infanterie-Leutnant Wachsmuth, der im Lazarett von Moshaisk eine Beinverletzung auskurierte, wurde mit anderen Verwundeten in einem Wagen nach Warschau geschickt und passierte am 18. Oktober die Stätte, an der er verwundet worden war: »Alle die Tausende von Menschenund Pferden, die hier zerschmettert waren, lagen noch unbeerdigt auf der Ebene verstreut. Auf allen Seiten grinsten uns die nackten Leichname an. Als wir das diesseitige Ende dieser ungeheuern Schlachtbank erreichten, krochen links an der Heerstraße, unter einigen zusammengebogenen Baumzweigen, zwei Jammergestalten hervor, die nun schon seit dem 7. September hier noch ihr elendes Leben gefristet hatten. Es waren zwei russische Infanteristen, die in der Schlacht die Beine verloren hatten. Sich auf die Hände stützend, rutschten sie mit einer außerordentlichen Behendigkeit durch den furchtbarsten Kot, hielten uns ihre Mützen entgegen und flehten um ein Stückchen Brot. Lieber Himmel! Wir selbst hatten seit acht Tagen keinen Bissen gesehen, warfen jedoch unsern Unglücksgenossen zwei Kohlköpfe zu, über welche sie auch stracks mit Heißhunger herfielen; auch etwas Geld fügten wir hinzu, wovon sie freilich im gegenwärtigen Augenblicke schwerlich Gebrauch machen konnten. Es war ihnen aber doch ein Trost, und wir – wir selbst elend! – fuhren nun mit dem Bewußtsein, Elend gemildert zu haben, leichteren Herzens weiter.«
    Ludewig Fleck vom westphälischen Bataillon der Garde-Carabiniers erlebte Napoleons Ankunft in Borodino mit: »Am 30. Oktober morgens zwischen 9 und 10 Uhr erreichten wir das Schlachtfeld von Borodino. Hier wurde haltgemacht und das ganze westphälische Militär in Front aufgestellt. Gleich darauf kam der Kaiser mit seiner zahlreichen Suite herangeritten, es wurden Honneurs (Ehrenbezeigungen) gemacht und darauf mit geschultertem Gewehre im langsamen Schritt über das Schlachtfeld marschiert; der Kaiser ritt mit gezogenem Degen an der Spitze seiner Suite langsam vor uns her, während die Marschälle und die ganze Generalität die Dreimaster in der Hand hielten. Es war gewiß ein herzzerreißender Anblick, die vielen tausend Leichen zu sehen, die zum Teil gräßlich verstümmelt dalagen, und er, der sie in Kampf und Tod gejagt hatte, ritt über sie hinweg. Ich möchte die Gefühle kennen, diein diesem Augenblicke die Seele des Kaisers durchströmten. Bei dem geschlossenen Frontmarsche war es nicht zu vermeiden, fast fortwährend auf Leichen zu treten.«
    Während des Transports kam der verwundete Leutnant Wachsmuth an dem nahe Borodino gelegenen Kloster Kolotzkoi vorbei, das zu dieser Zeit noch voller Verwundeter war, die dort unter grauenvollen Umständen vegetierten. »Früher schon hatte man mir das Elend in diesem Kloster geschildert. Da wir aber auch in Moshaisk tägliche Augenzeugen von dahinsterbenden, verhungerten Soldaten waren, so hörte man Erzählungen von solchen Szenen, ohne großen Anteil daran zu nehmen, wie etwas Gewöhnliches an. In diesem Kloster jedoch erblickte ich nun erst das Übermaß des Jammers. Von solchen Unglücklichen, wie wir sie auf dem eben verlassenen Schlachtfelde einzeln nur erblickt hatten, wurden wir in diesem Kloster völlig umzingelt und belagert. Seltsam, daß ich unter denselben keinen einzigen Russen erblickte! Ob diese sich vielleicht nach den benachbarten Ortschaften geschleppt oder in einem entfernten Flügel des Klosters verkrochen oder ob sie alle schon nach dem Jenseits abmarschiert waren, ist mir ungewiß geblieben; gewiß aber ist es mir geworden, daß zahllose Krüppel der großen Napoleonischen Armee, längs der Mittagsseite der ungeheuer langen Klostermauer, auf wenigen Halmen verfaulten Strohs, unter schräg an die Mauer gelehnten Brettern biwakierten, sich der Tschakos zu Nachtgeschirren und der Helme zu Kochtöpfen bedienten. Zu Haufen aufgeschichtet, lagen die nackten Leichname der Hingeschiedenen an den Eingängen des Klosters, so daß man darüber hinwegklettern oder sich seitwärts durchklemmen mußte. So drang man endlich durch den großen Vorhof in das Gebäude selbst ein. In einem Stalle sah ich Lebende und Tote durcheinanderliegen und war Augenzeuge, wie ein Deutscher einem Franzosen, der eben den letzten Odem ausgeröchelt hatte, die Lumpen abzog, um Binden und Charpie daraus für seine Wunden zu verfertigen. Um irgendwo eine Schlafstätte zu finden,durchstöberten wir nun alle Gemächer, alle Ställe, aber überall

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