Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
auf dieselbe Weise zerschmettert war und das blutende Gehirn um ihn her lag. Man wußte, daß 2000 russische Gefangene vorausmarschierten und daß sie von Spaniern, Portugiesen und Polen geführt wurden. Je nach der Verschiedenheit der Charaktere erzeugte dieser Anblick in jedem ein anderes Gefühl; der eine war empört darüber, der andere billigte die Tat, einen dritten ließ sie ganz gleichgültig. In der Nähe des Kaisers lieh man diesen verschiedenen Eindrücken keine Worte. Caulaincourt konnte jedoch nicht stumm dabei bleiben, sondern rief aus: ›Welche scheußliche Grausamkeit! Das also ist die Zivilisation, die wir den Russen bringen? Welchen Eindruck muß diese Barbarei nicht auf den Feind machen! Haben wir nicht auch unsere Verwundeten und eine Menge von Gefangenen in seinen Händen gelassen? Hat er also nicht Mittel genug, um die furchtbarsten Repressalien zu gebrauchen?‹ Napoleon versank in ein düsteres Schweigen; am andern Tage erneuerten sich jedoch diese Mordtaten nicht.« Einem Gefangenenaustausch hätten die Russen nicht zugestimmt, meint Ségur. BedeuteteNapoleons »düsteres Schweigen« also Zustimmung zu diesem Verbrechen?
Der aus Ossendorf bei Paderborn stammende Sergeant Heinrich Leifels vom westphälischen 8. Infanterie-Regiment (8. Armeekorps, 24. Division) wurde noch vor dem Rückzug Augenzeuge solcher Morde in der Nähe von Wjasma: »In der Ferne hörten wir eines Tages viele Schüsse, immer näher und näher kommend, fallen. Dieses erregte meine Aufmerksamkeit so, daß ich nach der Straße hinging, um zuzusehen, was da vorging. Ich wurde dort Augenzeuge furchtbarer Verbrechen, die mich mit Abscheu erfüllten. Ein Transport russischer gefangener Soldaten wurde durch westphälische Gardesoldaten eskortiert, und diese Schurken schossen die zuletzt marschierenden Russen, so schnell sie die Gewehre laden konnten, einfach nieder! Die unglücklichen Russen drängten sich wie Schafe aneinander, so daß die letzten die vorderen wegschoben. Sie nagten während des Marsches an längst verdorbenen Pferdebeinen und anderen Knochen. Einer von diesen unglücklichen Russen hatte Stroh im Arme und suchte im eiligen Laufe Ähren heraus, welche er kaute, andere nagten an aufgegriffenem Holze. Einer dieser Schurken, durch welche die Gefangenen transportiert oder, besser gesagt, meuchlings niedergeknallt wurden, war aus Ossendorf. Als ich mich diesem gegenüber unwillig über die gräßliche Mordlust äußerte, gab er ganz kaltblütig zur Antwort, seine Kameraden hätten Vergnügen daran! Der Offizier, der den Zug führte, lächelte auch wirklich, als in meiner Nähe, ungefähr 15 Schritte auseinander, zwei dieser unglücklichen Russen gemeuchelt wurden.«
Major Roman Graf Soltyk fand ermordete russische Gefangene beim Rückzug auf der Straße zwischen Wjasma und Smolensk: »Einst, als ich schweigend mit meinen Kameraden mitten in dem ungeheuren Schwarm der Unbewaffneten ritt, welche sich um die Korps drängten, die noch ihre Waffen behalten hatten und in Ordnung marschierten, hörten wir voruns Flintenschüsse, die sich oft, aber in langen Zwischenräumen wiederholten. Wir glaubten anfangs, daß es ein Gefecht mit Kosaken sei, welche uns zuvorgeeilt wären; aber sobald wir weiter vorgingen, fanden wir auf der Landstraße mehrere Leichname russischer Soldaten und erfuhren mit Entsetzen, daß jene Schüsse von Spaniern herrührten, welche einzelne Gefangene niederschossen, denen sie als Begleitung zugegeben waren. Matt vor Hunger und Ermüdung schleppten diese Unglücklichen sich kaum fort, vergebens trieben sie die spanischen Soldaten mit Kolbenstößen vorwärts, sie fielen vor gänzlicher Ermattung nieder, und jene Barbaren hielten ihnen alsdann die Mündung der Flinte ins Ohr und schossen sie tot. Sobald Napoleon von diesen entsetzlichen Hinrichtungen Kunde erhielt, war er darüber aufs höchste empört und gab auf der Stelle die strengsten Befehle dagegen.«
Wie die Westphalen im Bericht von Leifels, so beriefen sich auch die Spanier offenbar nicht auf einen Befehl. Graf Soltyk war im Hauptquartier Napoleons und hätte wissen müssen, ob der Mordbefehl vom Kaiser selbst stammte. Nach seinem Bericht offenbar nicht. Auch Napoleons Ordonnanzoffizier General Gourgaud widerspricht nachdrücklich der Vermutung, es habe einen Exekutionsbefehl Napoleons gegeben: »Als Napoleon einige Leichname an der Straße erblickte, beauftragte er den General Gourgaud, sich zu erkundigen. Gourgaud berichtete ihm, es seien
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